„Wir sind das Volk!“, brüllt es von der Bühne. Das Volk hat die Schnauze ziemlich voll. Lebensmittel sind zu teuer, die Politik untätig. Nun drängt die Masse zum Aufstand, mit Stöcken in der Hand, manche tragen Flaggen: roten Fahnen, Reichskriegsflagge, Energie Cottbus. Ein buntscheckiger Haufen, in dem es kräftig gärt. An diesem Abend steht tatsächlich das Volk auf der Bühne, gespielt von einem Bürgerchor aus Forst in der Lausitz. Einst stolze Industriestadt, schlägt einem heute in den Straßen viel postindustrielle Tristesse entgegen. Und auch der Aufführungsort, der Forster Hof, hat schon bessere Tage gesehen. Früher ein Grandhotel, das auch das Forster Stadttheater beherbergte, wurde der große Saal im vergangenen Jahr vom Lausitz-Festival erstmals wieder bespielt: mit „Empusion“ der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk.

Dem Lausitz-Festival wurde in den vergangenen Jahren immer wieder vorgeworfen, sich wenig um die Bevölkerung vor Ort zu scheren. Mit üppigen Bundesmitteln ausgestattet, landet die Großstadtblase aus dem Westen für einen Zwischenstopp im nahen, aber gefühlt fernen Osten und veranstaltet ein paar Events in Industrieruinen oder Kirchen, die oft nur bei den Subventionen pro Besucher auf allerhöchstem Niveau sind, lautete die Kritik. Eine Ruhrtriennale des Ostens stellte man sich irgendwie anders vor, näher dran an den Menschen und Themen der Region. Mehr im Kontakt statt nur auf der eigenen Umlaufbahn. Doch man hat beim Lausitz-Festival dazu gelernt. Bereits bei der großartigen Inszenierung von „Othello / Die Fremden“ im vergangenen Jahr, die dieses Jahr prompt wiederaufgenommen wurde, war der Stadtchor aus Weißwasser beteiligt.

Für „Es kotzt mich an. Ihr Kroppzeug!“ hat sich Regisseur Jürgen Kuttner, bekannt für Inszenierungen am Deutschen Theater Berlin und seine legendären Videoschnipsel-Vorträge, mit seiner Laientruppe die Geschichte des Coriolan vorgenommen, nach Shakespeare und Brecht. Der römische Feldherr besiegte nicht nur ein paar Völker an den Grenzen des Imperiums, sondern führte in dessen Zentrum einen erbitterten Kampf gegen die Plebejer. Coriolan, von dem Schauspieler Peter René Lüdicke mit goldener Jacke, Adidas-Hose und Revolver gespielt, ist von der „Wir sind das Volk“-Schreierei nicht beeindruckt. „Euch vertraun? Minütlich wechselt ihr doch eure Meinung, und nennt den edel, den ihr grad gehasst habt, den schlimm, der euer Held grad war.“ Es ist eine gepfefferte Rede. Die Pointe: Es regiert sich besser, wenn das Volk die Klappe hält.

Die Zeichen stehen auf Krieg zwischen Coriolan und dem Volk. Früher hätte man so etwas Klassenkampf genannt, von oben nach unten und umgekehrt. Vermittelnde Stimmen gibt es auch, wie den Menenius. Der wird in Forst von Torsten Pötzsch gespielt, dem langjährigen Oberbürgermeister des benachbarten Weißwasser. „Gebt mir eure Angst“, singt er mit Udo Jürgens, um dem Volk anschließend mit Robert-Habeck-Vibes zu erklären: „Die Teuerung, die kommt vom Himmel, nicht von den Patriziern.“ Das klingt im alten Rom so glaubhaft wie heute, dass die Preissteigerungen allein von der Inflation kommen, von der man aber auch nicht weiß, woher die nun wiederum kommt. Aus dem Kreml vielleicht. Man hat es als Politiker nicht leicht mit dem lieben Volk, das sich oft uneinsichtig zeigt. Pötzsch hat bei Shakespeare ein Lieblingswort dafür gefunden: „Volksblödheit“.

Weil sich das Volk allerdings auch weiterhin blöd und verstockt zeigt, greift Coriolan zu wirkungsvolleren Tricks der „Volksbezauberungskünste“, der Agitation und Propaganda. „Man greift uns an!“, schreit der Volksverächter. Nun aber schnell kriegstüchtig werden: „Sie wollen Krieg, sie kriegen Krieg.“ Und schwupps, reiht sich die Truppe hinter dem Feldherrn ein, brüllt „Krieg!“ und „Kill!“, alle politischen Differenzen sind wieder einmal vergessen. „Shakespeare zeigt die Wahrheit: Wer die Masse verachtet, muss sie doch beherrschen. Und wer sie beherrscht, muss sie verachten!“ Sagt wer? Adolf Hitler als Puppe, belebt von der fantastischen Suse Wächter, die an diesem Abend – wie bereits in „Brechts Gespenster“ am Berliner Ensemble – auch Brecht, Freud und Thatcher auf die Bühne bringt. Die kleinen Puppenzwischenspiele dienen als kluge Kommentarebene.

Dass der knapp zwei Stunden dauernde Abend in keinem Moment langweilig wird, liegt auch an der Musik von Matthias Trippner, der live an Schlagzeug und Keyboard einen treibenden Sound für den Abnutzungskampf zwischen Volk und Politik in der römischen Republik macht. Dass Coriolan am Ende scheitert und Rom dabei mit in den Untergang reißt, kümmert den Chor kaum noch, man widmet sich dem Tagesgeschäft. In diesem Spiel der Macht, in dem jeder nur schaut, dass die anderen nicht hochkommen oder unten bleiben, kann niemand gewinnen. Politik als institutionalisiertes Misstrauen aller gegen alle, als zerstörerischer Kampf. Den letzten Satz hat Kuttner bei Brecht gefunden, in dessen monumentalem Fragment „Fatzer“: „Und von jetzt ab und eine ganze Zeit über wird es keinen Sieger mehr geben auf eurer Welt, sondern nur mehr Besiegte.“

„‚Es kotzt mich an. Ihr Kroppzeug!‘ – Forster Bürger proben den Coriolan“ läuft beim Lausitz-Festival

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