Im März 1886 hielt der renommierte Geograf Edmund Naumann zur Jahresfeier des Vereins für Erdkunde in München einen Festvortrag über Japan. Eingeladen war auch ein junger Japaner. Als der Referent mit einer dämlichen Anekdote belegen wollte, Japaner seien nur zur Imitation, aber nicht zu eigenständigem Denken in der Lage, kochte der junge Japaner innerlich, hielt sich aber höflich zurück. Als Naumann dann auch noch behauptete, der Buddhismus spräche Frauen eine Seele ab, gab er seine Zurückhaltung auf und widersprach: Buddha sei der Erleuchtete, und es gebe viele Frauen, die in der buddhistischen Lehre als Erleuchtete galten. Und dies könne ja nicht ohne Seele geschehen. Man zollte ihm Beifall.

Als nun Naumann seinen Vortrag auch noch in einer Zeitung veröffentlichte, schrieb der junge Mediziner eine ausführliche Widerlegung, die für Aufsehen sorgte. Bei dem jungen Japaner handelte es sich um Rintarô Ôgai (1862–1922), der unter dem Namen Mori Ôgai alsbald zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der japanischen Literatur wurde, gerade auch als Vermittler europäischer und speziell deutscher Literatur.

Ôgai brachte Goethes „Faust“ nach Japan

Über hundert Werke hat er übersetzt, darunter Lessing, Schiller, E. T. A. Hoffmann, Schnitzler, Wedekind, aber auch Shakespeare, Ibsen und Strindberg. Seine Übertragung von Goethes „Faust“ gilt noch heute als meisterlich. Sein eigenes literarisches Schaffen – der Nachlass umfasst 23.000 Seiten – wurde wiederum in Übersetzungen international rezipiert. Ôgai stammte aus einer Familie von Ärzten über Jahrhunderte. Mit 19 Jahren absolvierte er als Jüngster überhaupt das Medizinstudium.

1884 war er als Militärarzt zum weiteren Studium nach Deutschland gekommen, das damals die weltweit besten Universitäten und speziell in der Medizin hatte. Er studierte in Berlin u. a. bei Robert Koch und bei Max Pettenkofer in München, wo er empirisch darüber forschte, dass Bier bei Bayern und Japanern gleichermaßen diuretisch wirke. Gleichzeitig bewältigte er ein ungeheures Lesepensum an deutscher und europäischer Literatur. Und fand dabei noch hinreichend Zeit für die, deren Seelen er verteidigt hatte. Studierende Japaner, notierte er, seien bei jungen Damen wegen ihrer Bildung und Wohlhabenheit sehr beliebt.

Als Ôgai 1888 heimkehrte, folgte ihm seine – wahrscheinlich schwangere – Geliebte Elise Weigert. Auf Druck der Familie und des Militärs trennte er sich jedoch von ihr und heiratete die Tochter eines Admirals. Von der ließ er sich sofort nach der Geburt des Sohnes Otto scheiden, was einen Skandal auslöste. Auch die Kinder aus zweiter Ehe trugen europäische Namen: Marie, Anne, Louis und Fritz. Die Geschichte seiner Liebe in Deutschland verarbeitete er, der nicht tanzen konnte, 1890 zur Erzählung „Maihime“ (Die Tänzerin) – kanonisiert als erste Ich-Erzählung der japanischen Literatur.

Ein anderes Ereignis seiner Münchner Zeit verarbeitete er ebenfalls literarisch: den Tod Ludwigs II. im Starnberger See. Die melodramatische Erzählung „Utakata no ki“ (Wellenschaum) führt noch heute japanische Touristen zur Sterbestelle bei Berg. Die Intensität seines literarischen Schaffens ist umso bemerkenswerter, als er bis 1916 hauptberuflich Militärmediziner war, in Kriegen unterwegs, zuletzt als Generalarzt und damit höchstrangiger Mediziner der japanischen Armee. Danach war er bis zu seinem Tod Direktor der Akademie der Künste. In Berlin erinnert in der Luisenstraße 39 die Mori-Ôgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität an ihn.

Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an. Die Actionszenen der Weltliteratur gibt es auch als Buch.

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