Das Wiener Volkstheater ist ein Haus im Umbruch. Überall wird geschraubt und gewerkelt. Plakate werden ausgetauscht, auf denen sich das Schauspielensemble präsentiert. Ein verspieltes Design mit kräftigen Farben und knalligen Objekten hat der Neue mitgebracht. Der Neue? Das ist Jan Philipp Gloger, der als Schauspieldirektor in Nürnberg so ein ambitioniertes Programm machte, dass er sich prompt für größere Aufgaben empfohlen hat.

Der Theater- und Opernregisseur kennt und liebt Wien, er hat schon am Burgtheater und der Volksoper inszeniert. Nun steht Gloger vor der Aufgabe, das als schwierig geltende Volkstheater neu aufzustellen.

Gloger läuft durch den großen Saal. Auf der Bühne ist bereits das Bühnenbild für seine Eröffnungsinszenierung aufgebaut, die Lichtkegel des bunten Discolichts wandern die leeren Zuschauerreihen ab. Der Saal ist einer der Gründe, warum das im 7. Bezirk zwischen Rathaus und Museumsquartier gelegene Theater als Herausforderung gilt. Der will nämlich erst einmal gefüllt werden. Das Volkstheater ist baugleich mit dem Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, mit 1200 Plätzen das größte Sprechtheater Deutschlands. Aufgrund von Umbauten sind es in Wien zwar nur 840 Plätze, viel ist das immer noch. Und da es keine mittlere Bühne im Haus gibt, muss sich das Programm ohne viel Rantasten im großen Format beweisen.

Früher hatte er selbst ein bisschen Angst vor der großen Bühne, gibt Gloger zu. Überwunden hat er die, als er Ayad Akhtars „Junk“ – ein episches Stück über den Niedergang der Wirtschaft der USA – am Hamburger Schauspielhaus auf die Bühne brachte. Dass er einmal ein Haus ähnlichen Ausmaßes leiten würde, konnte er sich damals noch nicht vorstellen. Trotz dieser Dimensionen hat das Volkstheater im Vergleich zum Burgtheater und dem Theater in der Josefstadt, beide fußläufig nur wenige Minuten entfernt, mit nur 20 Stellen ein deutlich kleineres Ensemble – und auch weniger finanzielle Mittel. Glogers Aufgabe lautet also, aus ganz wenig ganz viel zu machen. Eine Aufgabe, die an Zauberei grenzt?

Zaubern und verzaubern möchte Gloger auf der Bühne. Der 43-Jährige steht inmitten der Stuhlreihen am Regiepult, das mit Stapeln von Zetteln bedeckt ist. Schwer vorstellbar, dass man hier die Schaltzentrale jeder Inszenierung vor sich hat. Oder ist das der Beweis jener metaphysischen Spekulation, dass jeder Ordnung ein Chaos vorangeht: „Order from Noise“? Theater funktioniert ja so, dass man auf den Proben sehr vieles ausprobiert, verwirft, noch mal neu ausprobiert und wieder verwirft. Nur ein Bruchteil wird am Ende als gemeinsame Verabredung fixiert. Und das ist das Gerüst, mit dem das Ensemble am Premierenabend und in jeder folgenden Vorstellung ins Licht der Scheinwerfer tritt.

„Das Tolle am Theater ist, dass man den Scheinwerfer sieht und trotzdem glauben darf, dass die Sonne aufgeht“, sagt Gloger. „Theater ist eine Zauberbude. Wir zaubern für die Zuschauerinnen und Zuschauer, wir geben ihnen aber auch die Möglichkeit, zu verstehen, wie wir zaubern und wie sie verzaubert werden.“ Man merkt die verschiedenen künstlerischen Einflüsse, die hier aus Gloger sprechen: Auf der einen Seite das Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, der Schule für Illusionsbruch und Dekonstruktion im deutschsprachigen Raum, zudem assistierte er bei Rimini Protokoll. Auf der anderen Seite zog es ihn zu Dieter Dorn, zum klassischen Erzähl- und Ensembletheater.

Wie Gloger die Liebe zur Illusion und zum Illusionsbruch verbindet, so möchte er verschiedenste künstlerische Arbeitsformen an sein Haus holen. Als künstlerischer Direktor versteht er sich als Ermöglicher, Intendant will er lieber nicht genannt werden. „Intendant klingt immer nach Alleinherrscher, die Zeiten sind zum Glück vorbei.“ In seiner ersten Spielzeit arbeitet mit Darum ein eigenwilliges Kollektiv aus der freien Szene ebenso am Haus wie die formal sehr experimentierfreudige Regisseurin Rieke Süßkow, die sich nicht einfach in feste Probenpläne quetschen lassen. Da zehrt Gloger von der „Horizontöffnung“ aus Gießener Tagen. „Theater ist eben nicht nur Textauslegung, sondern die Verbindung verschiedener Kunstmittel.“

Gloger läuft durch das Bühnenbild, ruckelt an Vorhängen, zeigt, wie sein Auftakt „Ich möchte zur Milchstraße wandern!“ zum großen Eröffnungswochenende Mitte September aussehen soll. Nur in der Zeitung soll es noch nicht stehen, ein bisschen Geheimniskrämerei muss sein, allein für die Überraschung! Die größte Überraschung dürfte jedoch sein, wen Gloger dafür ausgegraben hat: den fast völlig vergessenen Wiener Autor Jura Soyfer, dessen Theaterstücke man – meist in alten DDR-Ausgaben – nur selten noch in Antiquariaten findet. Soyfer, 1912 in Charkow, dem heutigen Charkiw im Osten der Ukraine geboren und 1939 als Jude im KZ Buchenwald von den Nazis ermordet, ist tatsächlich das, was man einen Geheimtipp nennt.

Ein Geheimtipp ist Soyfer noch immer, obwohl er sogar schon von Netflix entdeckt wurde. Einer der meistdiskutierten Filme der vergangenen Jahre – der Blockbuster „Don’t Look Up!“ mit Stars wie Leonardo DiCaprio, Jennifer Lawrence, Cate Blanchett und Meryl Streep – basiert auf dem Stück „Weltuntergang“, das Soyfer mit gerade einmal 23 Jahren schrieb. Von Netflix geht es jetzt ins Theater: Neben „Weltuntergang“ bringt Gloger gleich zwei weitere Stücke von Soyfer auf die Bühne. Ein längst überfälliges Comeback für den vergessenen Sohn der Stadt, der das Potenzial zum Klassiker hatte. „Leider wurde Soyfer nur 26 Jahre alt, sonst wäre er der österreichische Bertolt Brecht geworden“, ist Gloger sich sicher.

Jura Soyfer wird das Volkstheater noch lange begleiten. Gloger hat nämlich einen nach Soyfer benannten Dramatikpreis ausgelobt. Gesucht wird die beste politische Komödie der Gegenwart, geboten werden eine Uraufführung am Volkstheater und immerhin 30.000 Euro, womit der Preis auf Anhieb einer der höchstdotierten im deutschsprachigen Raum ist. Gloger glaubt an die Wirksamkeit der Komödie, an das Enttarnende, aber auch das Verbindende des Lachens. „Es geht darum, sich selbst den Spiegel vorzuhalten, lustvoll die eigenen Verstrickungen aufzudecken“, sagt er. „Bloß kein Informationstheater oder preaching to the converted! Ich bin kein Aktivist, sondern Regisseur.“ Haltung will er auf der Bühne zeigen.

Keine Angst vor „Volksnähe“

Gloger ist kein Umstürzler, der behauptet, das Theater neu zu erfinden. Eher ein behutsamer Erneuerer, der vor dem Alten so wenig Scheu wie vor dem Neuen hat, der Dünkel durch Neugier vermeiden will, der sich nicht auf Statements versteift, sondern Begegnungen sucht. Von der Bühne gehen wir zu dem Begegnungsort im Haus, zur Roten Bar. Hier trifft man sich in den Pausen, bei Premierenfeiern oder zu Diskussionsveranstaltungen. Eingeladen sind alle, nicht nur ausgewählte Einzelgruppen. In dem grellgrünen Programmheft, das er mit sich herumträgt, schreibt Gloger: „Liebe Menschen in Wien!“ Niedrigschwelliger geht es kaum.

Das Programmheft liegt auf dem Tisch in der Roten Bar, auch hier wird schon aufgebaut für die Eröffnung. Das neue Logo fällt einem ins Auge: Während unter Glogers Vorgänger, dem nach Köln abgewanderten Kay Voges, das Wort Volk – durchaus programmatisch – nie ausgeschrieben, sondern wie der V-Effekt nur abgekürzt wurde, taucht bei Gloger das Volk wieder in der Mitte auf, umringt von den Buchstaben des Worts Theater.

„Das Theater soll sich unters Volk mischen“, sagt Gloger. Keine Angst vor „Volksnähe“! Dass es seit über 70 Jahren eine Zusammenarbeit mit den Volkshochschulen in der Stadt gibt – das Volkstheater Bezirke –, ist keine lästige Pflicht, sondern Verpflichtung; da inszeniert Gloger höchstselbst.

Politische Komödien, Volksnähe und das alles in Wien, ist das ein neues Wiener Volkstheater im Geiste von Johann Nestroy und Ferdinand Raimund? Gloger winkt ab, das ist ihm zu vollmundig. Nestroy und Raimund stehen zwar bei ihm im Bücherregal, doch wichtiger als alle Etiketten ist das Tun. „Ein Volkstheater sein zu wollen, ist ambitioniert genug.“ Man muss Publikum ins Haus locken und ans Haus binden. Von „Banküberfall“, direkt aus dem Londoner West End, über Liv Strömquist und Michael Haneke bis Joseph Roth (gemeinsam mit dem Nationaltheater Lviv in der Westukraine) wird es eine bunte Mischung zu sehen geben. Und dazu bekannte Gesichter wie Johanna Wokalek („Die Päpstin“) oder Sebastian Rudolph.

„Alles erzielt eine Wirkung“

Gloger ist einer, der keinerlei Eitelkeitskomplexe zu haben scheint, der gerne aufs Publikum zugeht, ohne deswegen an seinem Künstlertum zu zweifeln. Vielleicht auch, weil er einst als Keyboard-Alleinunterhalter und Kaufhauspianist unterwegs war, um sein Studium zu finanzieren. Inzwischen inszeniert Gloger an der Oper, kürzlich erst mit Christian Thielemann in Berlin. Schlager oder Neue Musik? Es geht eben beides. „Alles erzielt eine Wirkung“, sagt Gloger. Auch den im Theater weitverbreiteten Kitschverdacht gegenüber Gefühlen teilt er nicht.

„Spürst dich noch?“, heißt das Motto für seine erste Spielzeit. Im Wienerischen Idiom meint das aber auch, ob man verrückt geworden ist, wie „Bist deppert?!“. Für Gloger steckt da auch die Frage drin, wie man sich zu einer verrückten Welt überhaupt noch emotional verhalten kann. Im Theater kann man es vielleicht ausprobieren, spielerisch und mit Lust.

Gloger schaut auf die Uhr. Es ist höchste Zeit, er muss zurück auf die Probe. Denn viel reden kann man zwar immer, aber im Theater kommt es am Ende darauf an, dass man es auch auf der Bühne bringt, dass man es zeigen kann. Für Gloger fängt die Arbeit jetzt erst richtig an.

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