Ihrem neuen Buch hat Judith Butler in lockerer Anlehnung an Edward Albees 1962 erschienenes Ehedrama „Who’s Afraid of Virginia Woolf?“ den Titel „Who’s Afraid of Gender?“ gegeben. Albees Stück, das das Kinderlied „Who’s Afraid of the Big Bad Wolf?“ variiert, indem es an die Stelle des Wolfes die für die angloamerikanische Frauenbewegung bedeutende britische Schriftstellerin setzt, handelt von tatsächlicher und eingebildeter Mutterschaft und vom Versiegen der Sexualität in der Ehe. Es handelt also vom Unterschied zwischen sex und gender, zwischen biologischem Geschlecht und gesellschaftlich vermitteltem Geschlechtscharakter, und von der Unmöglichkeit, beide zusammenzuzwingen. Die Tragik der Hauptfigur Martha besteht darin, dass sie aus ihrem nie eingelösten Wunsch, Mutter zu sein, mithilfe ihres Mannes George eine eingebildete Wirklichkeit macht und die Mutterschaftsfantasie gegenüber Dritten und voreinander als Realität fingiert. Erst als George das Spiel aufkündigt und das nie zur Welt gekommene Kind symbolisch beerdigt, wird sie gewahr, dass keine Fantasie, kein Sprechakt und kein Spiel je von sich aus Realität schaffen können, und dass das wirkliche Leben sich vom fantasierten dadurch unterscheidet, dass es enttäuscht.

Die Hoffnung, die bei Albee am Ende aufblitzt, besteht darin, dass aus dem Eingeständnis solcher Enttäuschung ein wirkliches und deshalb sinnliches Glück entspringe. Wer liest, wie sich Butler in ihren Tiraden gegen die immer „rechten“, offenbar weltweit koordinierten „Angriffe gegen Gender“ verheddert, vermag nachzuvollziehen, in welchem Maße ihre „Gender-Kritik“ sich dem Hass auf die aufklärerisch-liberalen Ursprünge jener sexuellen Emanzipation verdankt, von deren Erbe sie zehrt. Wie Albees Pathogenese einer Ehe mit Hendrik Ibsen und August Strindberg an Vorgänger anknüpfte, die geschlechterpolitisch alles andere als progressiv waren, so nahm auch die Frauenbewegung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihrer bürgerlichen wie linken Erscheinungsform die Erfahrungsrealität der von ihr kritisierten Gesellschaft ernst. Es waren keine sprachlichen oder kulturell nur konstruierten Widersprüche, von denen sie ihren Ausgang nahm, sondern empirisch erfahrbare: das Leiden an der fortbestehenden Kluft zwischen dem längst für Frauen Möglichen und der deprimierenden Lebensrealität – an der „Beschränktheit der Strategien“ und „Unangemessenheit der Wünsche“, wie die Soziologin Ulrike Prokop es 1976 formulierte. Der Name Virginia Woolfs, die diese Kluft 1929 in ihrem Essay „Ein Zimmer für sich allein“ als charakteristisch für die Erfahrung von Frauen in der damaligen Moderne beschrieb, wurde emblematisch für die Zweite Frauenbewegung.

Butler ersetzt den emblematischen Namen durch ein Bekenntnis, zu dem sie zu ermuntern vorgibt, für das sie aber in Wahrheit nur Propaganda macht: das Bekenntnis zu „Gender“. „Gender“ ist für sie kein komplementärer Begriff zu „Sexus“, denn bekanntlich ist das biologische Geschlecht für Butler ebenso „konstruiert“ wie der erworbene Geschlechtscharakter. Den materialistischen Triebbegriff der Psychoanalyse löst sie unter Rekurs auf die Linguistik und einen missverstandenen Jean Laplanche kurzerhand in eine Erscheinungsform der „Syntax“ auf. Indem „Gender“ solcherart zu einem Unbegriff wird – Begriffe ohne Gegenbegriffe, zu denen sie im Widerspruch stehen, sind keine –, ist er sozusagen immer im Recht, während diejenigen, die ihn mittels Argumentation, Nachweises von Widersprüchen und Gegenfragen kritisieren, auf der Seite des Logos, der „Binarität“ und damit „rechts“ stehen. „Rechts“, wahlweise auch „konservativ“, „nationalistisch“ und „kolonialistisch“, sind die vom Gender Trouble notorisch Verängstigten, die Butler mal sanft, mal nötigend animiert, loszulassen und zu konvertieren: „Sie fürchten die Variabilität von Gender, und zwar nicht nur die unterschiedliche Art und Weise, wie sich Männer und Frauen heute verhalten, sondern die offensichtliche Tatsache, dass sich Kategorien im Laufe der Zeit verändern; dass Personen, denen bei Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde, Männer werden können, und Personen, denen bei Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde, Frauen … Diejenigen, die angesichts der Variabilität und der unterschiedlichen Ausprägung von Gender verunsichert sind, zeigen sich besonders anfällig für politische Kräfte, die darauf beharren, Gender sei eine ‚Ideologie‘ und zusammen mit anderen Formen von ‚Wokismus‘ verantwortlich für die Zerstörung der Familie, der Zivilisation, der Menschheit oder nationaler Kulturen.“

Permanente Selbstmutation

Der Umschlag dessen, was sich im Poststrukturalismus der Achtzigerjahre Identitätskritik nannte, in einen neureligiös-ganzheitlichen Identitätskult ist hier offenkundig. Wie bei jedem Sektensermon kommt die Fürchtet-euch-nicht-Predigt – die Werbung für die „Variabilität von Gender“, das im gesamten Buch nicht als Wort, als Bezeichnung für etwas von ihm Unterschiedenes, sondern als Substanz, als unendlich bearbeitbare Knetmasse geschlechtlicher Formation und Neuformation, erscheint – kaum ohne Kampfaufruf gegen die Ungläubigen aus: gegen jene Verunsicherten, deren falsches Denken man daran erkenne, dass sie sektiererische Phrasen, statt sie mitzusprechen, als „Ideologie“ denunzieren. Ob sie sich, um ihre Zweifel zu begründen, wie Konservative auf die Familie, wie Universalisten auf die Menschheit oder wie Ethnopluralisten auf nationale Kulturen beziehen, ist wurscht: Um „rechts“, auf der Seite des binären Codes, der Diskriminierung und Heteronormativität zu sein, genügt es, überhaupt noch zwischen Gegenständen der Erscheinungswelt zu differenzieren, statt mit allem, was man sagt, immer irgendwie alles zu meinen. Die Gruppe der Verunsicherten, die sich als Verteidiger der Wirklichkeit gegen deren Dekonstrukteure verschworen haben, erweist sich als ebenso diffus wie die „Gender“ genannte Nicht-Wirklichkeit.

Butler hingegen zielt, wenn sie dafür plädiert, „mehr darüber herauszufinden, mit welchen Ängsten diese Menschen leben“ – „diese Menschen“ sind alle, die ihr widersprechen – auf eine „kollektiv entwickelte Alternativvision, die … die Gleichheit, den Wert und die wechselseitige Abhängigkeit aller lebenden Geschöpfe radikal bekräftigt.“ Wie „Gender“, also etwas, das jegliche Unterscheidung nur als unterdrückerische Setzung kennt, mit „Gleichheit“ zusammengehen soll – gleich kann nur voneinander Unterschiedenes sein –, und was das für Geschöpfe sind, die keine Schöpfung kennen außer der permanenten Selbstmutation, darüber braucht nicht nachzudenken, wer die Essenz der antiessenzialistischen Predigt verinnerlicht: die Anerkennung „wechselseitiger Abhängigkeit“. Keiner darf tun und lassen, was er will, wir sind alle auf Gedeih oder Verderb aufeinander angewiesen, am meisten aber auf diejenige, die uns solche Weisheit offenbarte. Wer danach nicht Amen sagt, der ist ein Rechter.

Judith Butler: Wer hat Angst vor Gender? Aus dem amerikanischen Englisch von Katrin Harlaß und Anne Emmert. Suhrkamp, 405 S. , 24 Euro

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