Mit der Herrlichkeit ist es vorbei. In Sachsen und im Saarland, in Weimar und in Wolfsburg müssen die Kinder schon wieder zur Schule gehen und in Nordrhein-Westfalen, wo ein Fünftel der Bevölkerung lebt, geht es nächste Woche wieder los: Rund zweieinhalb Millionen Schüler setzen sich dann einen großen Hut auf, heben ihr Pferd von der Veranda und rufen, kaum, dass sie die Tür zum Klassenzimmer aufgerissen haben: „Komme ich gerade richtig zur Plutimikation?“
Es wird natürlich anders laufen. Jenseits von Astrid Lindgrens gleich nach Kriegsende geschaffener Superheldin Pippi Langstrumpf müssen alle Thomas und Annika sein, und die gehen „natürlich“ in die Schule, wobei sie sehnsüchtige Blicke zur Villa Kunterbunt hinüberwerfen, wo die Ferien nie zu Ende gehen. Pippi Langstrumpf ist schließlich eine Gestalt gewordene kindliche Allmachtsfantasie und zu ihrer Bärenstärke gehört, auch der Schulpflicht zu entrinnen. Das allerdings halten nicht nur Thomas und Annika schlecht aus, die keineswegs immer gönnen können; seit Jahren wird dieser Pippi auch eine ADHS-Diagnose angehängt, was nicht nur das Wesen von Literatur, sondern auch Pippi Langstrumpfs Sosein bitterlich verkennt.
Denn Komik und Tragik, Melancholie und Karneval, Erlösung und Schrecken liegen bei ihr näher beisammen, als man durchschnittlich so denkt. Nicht umsonst hat Astrid Lindgren Pippi zum noch viel schwierigeren Karlsson vom Dach weiterentwickelt, mit dem seine Deuter noch viel schlechter zurechtgekommen sind.
Doch sogar Pippi wäre manchmal gern gewöhnlich – und sei es auch nur, um wie gewöhnliche Kinder Ferien zu kriegen. Tatsächlich ist ihr Ausritt in die Schule so etwas wie ein Selbstnormalisierungsversuch, in dessen Verlauf niemand so sehr mit Pippi hadert wie sie selbst. „Ich bitte sehr um Verzeihung. Das wusste ich nicht. Ich will es nicht wiedertun“ sind eigentlich keine klassischen Pippi-Sätze und doch sind es Sätze, die sie im Klassenzimmer sagt.
Sie übernimmt sogar ihre eigene Bestrafung und kneift sich ins Ohr, weil sie das Fräulein Lehrerin so penetrant duzt. „Kannst du mir noch dieses letzte Mal verzeihen?“, fragt sie, wohlwissend, dass noch viel mehr Verzeihung nötig werden wird, wenn man „ein ganzes Leben lang auf dem Meer gesegelt ist“, nicht weiß, wie man sich in der Schule „benehmen soll“ und sich einem jede einfache Rechenaufgabe – Lisas Äpfel plus Antons Äpfel – zum komplexen Roman auswächst: Wer, fragt Pippi, trägt die Schuld und wo haben die beiden die vielen Äpfel eigentlich geklaut?
Aber vielleicht ist ja genau das der Trost, den das berühmte Schulkapitel aus „Pippi Langstrumpf“ für alle bereithält, die nicht in der Villa Kunterbunt leben und in diesen Tagen nach sechs Wochen Ferien brav wieder in die Schule gehen: Es hat seine Vorteile, nicht Pippi Langstrumpf zu sein, und wer sich auf Plutimikation versteht, kann die Tage bis zu den Herbstferien wenigstens zählen.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke