Mit einer ganz neuen Games-Idee um die Ecke zu kommen, ist nicht so einfach. Die junge, querschnittsgelähmt im Rollstuhl sitzende Spieledesignerin, die sich mit Künstlernamen Byproxy nennt, will ein ganzes Genre erfunden haben: TBG, Think-Backwards-Game nennt sie das. Der Spieler muss zur Szenerie des Ausgangslevels kombinieren, wie es zu dieser Lage gekommen ist.
Der arrogant-gelangweilte Typ von der Spielefirma übernimmt die Café-Rechnung und gibt gratis ein paar zynische Pro-Tipps. „Ich würde die ganze Sache nochmal scripten und zwei, drei geschäftstüchtige Jungs anstellen. Hintergrundgeschichte raus, Emotion rein. Paar Sachen verstecken, damit die Leute glauben, dass es ein Geheimnis gibt, und fertig.“
Das Ausgangslevel von Raphaela Edelbauers neuem Roman „Die echtere Wirklichkeit“, dessen Ich-Erzählerin Byproxy ist, sieht so aus: eine Gruppe radikaler Wahrheitsliebhaber in Wien trifft letzte Vorbereitungen für einen Terroranschlag, vor dem Parlamentsgebäude soll eine Bombe hochgehen, Teilnehmer eines Philosophie-Symposions als Geiseln genommen werden. Ihr Ziel ist es, eine medienwirksame Verlesung eines Manifests gegen die grassierende Fake-News-Epidemie zu erpressen, das die Schuld am Relativismus postmodernen Theoretikern von Foucault bis Derrida in die Schuhe schiebt.
Nun also Think Backwards! Byproxy schildert, wie sie selbst in diesen Zirkel geraten ist. Einen Autounfall, bei dem ihre beste Freundin das Leben verlor, überlebte sie schwer verletzt und sitzt seither im Rollstuhl. Aus einer Einrichtung für betreutes Wohnen flog sie wegen Gewalt gegen einen Mitbewohner raus; als sie obdach- und mittellos durch den Wiener Regen rollt, trifft sie zufällig auf die seltsame Truppe, die sich selbst Aletheia – Griechisch für Wahrheit – nennt. Als Einstand muss sie sich durch einschlägige Fachliteratur von Aristoteles bis Sartre fressen. Dann hat auch sie Blut geleckt.
Der vordergründige Strang des Romans geht der Vorgeschichte der Mitglieder dieser höchst dysfunktionalen Zelle nach: Bernward, der Cheftheoretiker, ist ein verkrachter Philosophiedozent, der es nicht zur Professur gebracht hat und seinen Hass auf die Unikollegen im Untergrund auslebt. Außerdem gibt es: Eine von allen „Chirurgin“ genannte misanthropische Altlinke, die sämtliche Protestbewegungen seit den 70ern mitgemacht hat und sich deswegen mit Sprengstoff auskennt. Paul, Typ radikalisierter Hochbegabter, saß schon wegen Körperverletzung im Knast, und schließlich Brigitte, aus der Art geschlagene Millionenerbin, deren verbliebene Rich-Kids-Verbindungen das Leben im Untergrund finanzieren.
Was diese vier, plus die IT-versierte Byproxy, zusammenhält, ist unklar, denn ihr Dauerstreit erstreckt sich auf alles vom Kochdienst über die Phänomenologie bis zur Frage, ob Gewalt gegen Sachen auch die gegen Menschen einschließt. Man könnte das als Psychogramm eines kulturkämpferischen Wahns lesen, wenn Edelbauer nicht sicherstellte, dass das politisch-moralische Ziel der Aktivisten absolut gerechtfertigt erscheint.
Beim Besuch eines Volksfestes in der Provinz wird Byproxy der rechte Sumpf, in dem Tatsachen, Rationalität und wissenschaftliche Begründungen als verzichtbar gelten, bis zum Erreichen der physischen Ekelschwelle vorgeführt. Was freilich dreiste Fake News mit Foucault und Co zu tun haben sollen, wird nicht bis zu einer überzeugenden Letztbegründung durchgeführt.
Raphaela Edelbauer ist eine höchst raffinierte Erzählerin, die schon in ihrem grandios-verschachtelten KI-Roman „Dave“ von 2021 einen irren Plot-Twist eingebaut hat. Auch in „Die echtere Wirklichkeit“ finden sich immer wieder Hinweise darauf, dass die eigentliche Handlung auf einer ganz anderen Ebene abläuft. Das „Think Backwards Game“ des Romans liegt darin, dass der Erzählerin selbst nicht zu trauen ist.
Die emotionale Story des Unfalls und der psychischen Krankheit ihrer besten Freundin, die angeblich dazu geführt haben, erweist sich bei genauem Hinsehen als höchst widersprüchlich. Im Kern des Romans steht ein Identitätsklau; Byproxy bedeutet „stellvertretend“ und bezeichnet selbst ein psychopathologisches Syndrom. Ausgerechnet die Backstory der Wahrheitsfanatikerin erweist sich als höchst manipulativer Fake.
Man kann „Die echtere Wirklichkeit“ einen Thesenroman nennen, im Englischen spricht man, weniger abwertend, von einer „Novel of ideas“. Doch geht es nicht, oder jedenfalls nicht in erster Linie, um die philosophischen DIY-Thesen aus den Aletheia-Manifesten. Edelbauer zeigt mit genuin literarischen Mitteln, dass Erzählen immer schon Post-Truth ist. Das klingt dystopisch, ist aber, in Wahrheit, ein Sieg der Fiktion.
Raphaela Edelbauer: „Die echtere Wirklichkeit“. Klett-Cotta, 448 Seiten, 28 Euro.
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