Die Haushälterin Henriette Cornier war 27 Jahre alt, als sie am 4. November 1825 ihrer kleinen Nachbarstochter Fanny mit einem Küchenmesser den Kopf abschnitt. Sie hatte die Mutter überredet, ein paar Stunden auf das Baby aufpassen zu dürfen – als diese es abholen wollte, öffnete Cornier ihr die Tür, sprach den Satz „Dein Kind ist tot“ und warf den Kopf aus dem Fenster.
Danach setzte sie sich ruhig auf einen Stuhl, den Torso neben sich, während die Mutter schreiend nach draußen lief. Bei ihrer Verhaftung gestand Cornier ihre Gräueltat ohne Umschweife und sagte, sie wisse nicht, warum sie das Baby getötet habe, sie habe es nicht geplant. Diese Antwort war so irritierend, dass auf Bitte ihres Anwalts ein medizinisches Gutachten erstellt werden sollte. Cornier kam für drei Monate in die Nervenheilanstalt Salpêtrière bei Paris, unter Aufsicht des Psychiaters Jean Ètienne Esquirol.
Der Vertreter der damals noch jungen Wissenschaft forschte zu einem neuen Phänomen, das er „Monomanie“ nannte: ein schwer zu greifender und bald wieder obsoleter Ausdruck für die fragmentierte Psyche – vorübergehende Zustände, die man heute als Depression, Paranoia, PTSD, ADHS, bipolare Störung oder Schizophrenie bezeichnen würde. Bis dahin hatte man Geisteskrankheiten nur in vier Kategorien unterteilt: Manie, Melancholie, Raserei und Schwachsinn. Mit „Monomanie“ wollte Esquinol der Melancholie zu mehr Komplexität verhelfen.
Der aufsehenerregende Prozess, durch den man Einzelheiten über die bedrückende Vorgeschichte Corniers erfuhr, endete in ihrer Verurteilung zu lebenslanger schwerer Arbeit. Es war das erste Mal, dass jemand wegen einer psychischen Krankheit als unzurechnungsfähig galt und so der Guillotine entkam, was die Rechtsprechung für immer verändern sollte.
Cornier wäre auch ein perfektes Modell für den Maler und ehemaligen Salpêtrière-Patienten Théodore Géricault gewesen. Doch er hatte bereits vier Jahre zuvor den Auftrag der Klinik erhalten, zehn Porträts von Menschen mit „Monomanie“ zu malen, denn man benutzte dort für Vorlesungen lieber Bilder als echte Patienten. Fünf der Gemälde gibt es noch – darunter das „Porträt eines Kleptomanen“, das nun im Rijksmuseum in Amsterdam zu sehen ist.
Es ist das Schlüsselwerk der ersten Ausstellung, die das Museum – weltbekannt für seine Rembrandts und Vermeers – einer zeitgenössischen Künstlerin widmet: Der in Indonesien geborenen, in Australien aufgewachsenen und in Amsterdam lebenden Fiona Tan. Ihre lyrisch-stillen Filme, Fotos und Videos verweben Biografien, Dokumentationen und Fantasie, wobei Tan mit Archiven und eigenen Erinnerungen arbeitet. Für „Monomania“ hat sie acht Jahre lang recherchiert; und hält sich mit ihrem eigenen Werk weitgehend zurück. Stattdessen gibt sie rund 270 wissenschaftlichen Fotografien, Auszügen aus Medizinbüchern, anatomischen Puppen, japanischen Masken, Rohrschachtests, Kleidung und Möbeln Raum, um erstmals die Anfänge der Porträtgeschichte der Psychiatrie zu erzählen.
Begleitend vermittelt eine Broschüre Tans Gedanken auf so persönlich-poetische Weise, dass man beinahe selbst über allen Stücken in eine Monomanie des Staunens verfällt. Viele stammen aus dem Depot des Rijksmuseums und wurden selten oder noch nie gezeigt. Andere entdeckte Tan durch Zufall, wie die fratzenhaften „Charakterköpfe“ (1770–1783) des Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt im Kunsthistorischen Museum Wien, die hier wie dreidimensionale Studien zu psychischen Krankheiten aussehen.
Géricaults „Porträt eines Kleptomanen“ zeigt einen Mann, dessen Unruhe und Verunsicherung aus jeder Pore spricht. John Berger erkannte darin einst den „Wahnsinn der modernen Welt“. Für Tan sieht das Bild so aus, als wäre es erst gestern gemalt worden, der wirre Blick erscheint ihr wie der eines Mannes, „der sein Zentrum verloren hat“. Durch Géricaults einfühlsame Malweise, die dem vermeintlichen Verbrecher Menschlichkeit verleiht, trifft das Bild den Grundton der Schau: Es zeigt den schmalen Grat zwischen geistiger Gesundheit und Wahn, Pathologie und Poesie.
Blick in den blinden Spiegel
Tan löst diese Ambivalenzen nicht auf. Sie lässt die Besucher auf alte, blinde Spiegel stoßen, in denen sie sich kaum selbst erkennen, oder auf Goyas halluzinative Druckserie „Los caprichos“ und „Los disparates“, auf denen gequälte Menschen von Fabeltieren und Geistern heimgesucht werden. Wer hat in Alpträumen nicht schon Ähnliches gesehen?
Auch frühe Fotografien von Schauspielern und Gebärdensprachlern, die ihre Gesichter und Köpfe auf groteske Weise verzerren, um Gefühle auszudrücken, stellen subtil die Frage, wo Krankheit beginnt und Gesundheit endet. Goya war taub, als er seine Dämonen malte – ein Zustand, der Stimmen im Kopf und andere Wahnvorstellungen mehr befördert als jeder andere Sinnesverlust.
Dass im 19. Jahrhundert besonders Patientinnen psychische Instabilität attestiert wurde, zeigen die Leinenstickereien von 1857 aus Frauenpsychiatrien in den Niederlanden. Jede Frau sollte nach identischen Vorgaben ein Tuch oder ein weißes Nachthemd anfertigen. Die Ergebnisse waren ähnlich und doch verschieden, was zeigt: Innerer Schmerz hat viele Gesichter – vor allem bei Frauen, die in dieser Zeit extrem unter der Unterdrückung in Ehe, Kirche und Gesellschaft litten.
Zugleich unterschied man damals noch nicht zwischen psychischen und neurologischen Erkrankungen: Dass die äußeren Erscheinungsformen von Epilepsie und Syphilis biologische Ursachen haben, wusste man nicht, weshalb man sie als Geisteskrankheit sah. Bei Frauen diagnostizierte man gerne „Hysterie“, obwohl die Ursache in hormonellen Schwankungen lag.
Das Nebeneinander von klinischen Dokumenten und Kunst hat etwas Berührendes: Bücher mit Fotos und Beschreibungen von Patientinnen, die unter „Seniler Demenz“ oder „Chronischer Manie“ litten, stehen neben einem Zeitungsartikel über den Fall Cornier, Edvard Munchs „Frauen in drei Zuständen“ und japanischen Noh-Theatermasken. Das wirft die Frage auf, inwieweit auch Kunst aus psychischen Grenzzuständen entsteht, die sie in emotional aufgeladene Werke transformiert.
Der Ausstellungskatalog ist eine zauberhafte Weiterführung des Handbuchs. Tan beschreibt ihre tastende Reise durch die Krankenhausarchive. Zugleich liest man von Einzelschicksalen wie etwa von Auguste Deter, die 1901 mit 51 Jahren in der Psychiatrie in Frankfurt am Main eingeliefert wurde: Ihr Mann wurde ihrer Rastlosigkeit und Konfusion nicht mehr Herr.
Sie kam in die Hände des damals 37-jährigen, kettenrauchenden und reich verheirateten Alois Alzheimer, dem sie auf die Frage nach ihrem vollen Namen immer nur mit „Auguste“ antwortete. Der Psychiater und Neuropathologe stellte ihr Testfragen, die bis heute zur Diagnose der später nach ihm benannten Krankheit dienen, und behielt die Patientin auch bei sich, als ihr Mann ihren Aufenthalt nicht mehr zahlen konnte – und dafür unterschrieb, dass man das Gehirn seiner Frau, deren Zustand sich merklich verschlechterte, nach ihrem Tod sezieren durfte.
1906 starb Auguste Deter. Bei der Autopsie ihres Gehirns stellte Alzheimer fest, dass sich der zerebrale Kortex in weiten Teilen zersetzt hatte und deformierte Stellen aufwies, die man heute „Plaque“ nennt. Die Ursache des Gedächtnisschwunds war damit erklärt – und der Weg von der psychiatrischen Porträtgeschichte in die Neuropathologie geebnet: „Alzheimer brauchte Augustes Porträt nicht“, schreibt Tan: „Er hatte ihr Hirn.“
Vielleicht ist es Zufall, dass die grafische Abbildung des Hirns von 1911, die Alzheimer als „gefrorene Sektion mit gefärbten Gliazellen“ beschrieb, aussieht wie abstrakte Kunst, die genau in dieser Zeit entstand. Vielleicht wird aber auch anhand von Tans sensibler Suche einfach nur klar, dass Kunst und Psyche eben schon immer eng verwoben waren.
„Fiona Tan: Monomania“, bis 14. September 2025, Rijksmuseum Amsterdam
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