Mein Nachbar will nicht arbeiten, bis er 70 ist. Er will sogar mit 63 in Rente – so wie vor ihm schon sein Vater. Und sie sind im Recht. Der Vater hat mit 15 angefangen zu arbeiten, war ein Leben lang Handwerker bei der Eisenbahn. Als er aufhörte, hatte er – oft hart bei Wind und Wetter draußen – 48 Jahre gearbeitet, also länger als viele Akademiker arbeiten würden, wenn man sie zwänge, erst mit 70 in Rente zu gehen. Ähnlich verhält es sich mit seinem Sohn, der Gärtner ist und arbeitet, seit er 16 wurde.

An Lebensläufe wie die meiner Nachbarn denken diejenigen, die sich über die Idee, das Rentenalter auf 70 Jahre heraufzusetzen, erregen und dabei mit Begriffen wie „schuften“ operieren. Doch die Wahrheit ist: Die beiden sind untypisch.

Im Jahre 1974 waren 70 bis 80 Prozent der 17- bis 21-Jährigen schon berufstätig. Das war damals ein wichtiges Argument für die Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre. Heute arbeiten zwar rein theoretisch immer noch erstaunliche 60 bis 65 Prozent der 18-Jährigen. Dabei sind aber alle Praktika, Jobs neben dem Studium, Freiwilligendienst etc. mitgezählt. Nur rund 30 Prozent sind tatsächlich schon berufstätig.

Deshalb stellt sich die Frage: Was genau spricht also dagegen, länger zu arbeiten? Wenn Menschen immer später ins Berufsleben kommen. Wenn wir immer länger leben. Wenn die Zahl der gesundheitsverschleißenden Tätigkeiten zurückgeht. Und wenn Mittsechziger fitter sind als Mittvierziger früher. Von den hinfälligen, todgeweihten 70-Jährigen, die Bismarck vor Augen hatte, als er dieses Rentenalter 1889 als Standard etablierte, ganz zu schweigen. Erst 1916 wurde der Renteneintritt mit 65 Jahren zum Standard.

Ich selbst möchte, wenn ich so alt geworden bin, gerne noch vier bis fünf Jahre weiterarbeiten. Unter anderem deshalb, weil ich drei Töchtern Ausbildung und Studium mitfinanzieren soll und ich die finanziellen Kollateralschäden einer zweiten Scheidung bereinigen muss – auch das ein Zeichen dafür, wie sich Zeiten und Lebensentwürfe seit der Kaiserzeit verändert haben.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass ich genauso wenig repräsentativ bin wie meine Nachbarn, der Eisenbahner und der Gärtner. Als Argument dafür, das Rentenalter für alle heraufzusetzen, tauge ich nicht. Doch bevor man die Rente mit 70 als verpflichtenden Standard etabliert, könnte man es erst mal Leuten leichter machen, die einfach länger arbeiten wollen.

Die Ampel-Regierung hat einiges dafür getan. Es war nicht alles schlecht! Aber immer noch ist das ein recht komplizierter Vorgang. Auch weil im Rentenrecht nach wie vor an einem fixen Datum festgehalten wird, mit dem man in den Augen der Bürokratie quasi automatisch zum Rentner wird. Man muss aktiv werden, um weiterarbeiten zu können.

Umgekehrt wäre es klüger: Wenn man ein paar Hebel betätigen müsste, um überhaupt ins ominöse „Rentenalter“ zu kommen. Menschen, die das nicht wollen, sollte man einfach weiterarbeiten lassen, ohne dass sie dafür extra irgendwas zu regeln und zu vereinbaren haben. Nachdem man mit schlechten Gründen so viele Bismarck-Zimmer und -Denkmäler infrage gestellt hat, gäbe es tatsächlich gute Gründe, dieses Erbe der Kaiserzeit abzuwickeln.

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