Viel hilft viel? Wolken von Konfetti zerstäuben über der Bühne und auf die Tanzenden. Die wirbeln wie in einem actionlastigen Kung-Fu-Film durcheinander, springen auf einer Wippe auf und ab oder lassen einen Hammer auf einen Amboss knallen, während Mozarts „Lacrimosa“ durch den Saal dröhnt. Mit „Homo Faber – The Origin“ legt Kyoung Shin Kim die Latte in Sachen Materialschlacht beim diesjährigen Impulstanz-Festival in Wien sehr hoch.

Passend zum Thema, denn der südkoreanische Tänzer und Choreograf zeigt uns den Homo faber, den naturbeherrschenden Menschen, als destruktiven Charakter, der Werkzeuge schafft, um letztlich die Welt und sich selbst auszulöschen. Ein schrecklich-schöner Abstieg ins Tal der Tränen, der einen zerhämmert und zerschossen zurücklässt.

Nicht nur Kims „Homo Faber – The Origin“, sondern viele weitere Abende bei Europas größtem Tanzfestival zeigen, dass es im Tanz keine Scheu vor großen Bildern gibt. Ja, manchmal hilft viel auch viel! Wo im Sprechtheater inzwischen oft spröde Diskurse auf die Bühne kommen und die fast obligatorische Live-Kamera unser tägliches Leben imitiert, in dem kleine Bildschirme sogenannter Endgeräte permanente Nähe simulieren, geht der Tanz den mühseligen, aber lustvollen Umweg über das Sinnliche.

Weil das Ausgangsmaterial der menschliche Körper und seine Bewegung im Raum ist, kann nicht alles sprachlich dekonstruiert und diskursiviert werden. Die Schaltkreise unaufhörlicher Kommunikation kommen an eine Grenze: Bedeutung entsteht, wo das Gerede unterbrochen wird, das darüber hinwegtäuscht, dass sich die meisten Menschen doch nichts zu sagen haben.

Immer wieder „Café Müller“

Für Begeisterung beim Wiener Publikum sorgen zwei Klassiker der 2009 verstorbenen Choreografin Pina Bausch, die Boris Charmatz neu eingerichtet („Nelken“) beziehungsweise mit eigenen Arbeiten erweitert hat (so wird „Café Müller“ zu dem Triptychon „Club Amour“). Für den Leiter des Wuppertaler Tanztheaters ist es die Abschiedstour, im Frühjahr verkündete er überraschend seinen Abschied aus Wuppertal.

Über die Gründe wurde Schweigen vereinbart, doch heißt es, dass Charmatz das Erbe von Bausch weniger museal pflegen wollte, wie er es vergangenes Jahr mit „Forever“ beim Festival in Avignon zeigte, einer siebenstündigen immersiven Version von „Café Müller“. Für Fans des französischen Choreografen gibt es in Wien eine Buchvorstellung: „Nahaufnahme Boris Charmatz“.

Die von Pina Bausch ersonnenen Bildwelten nehmen einen noch heute völlig gefangen. Die nächtlichen Begegnungen des Begehrens in einem Meer von Stühlen in „Café Müller“ oder das Spiel mit Grenzen (der Staaten, der Geschlechter) inmitten eines Blumenfeldes in „Nelken“ sind von einer solch enthobenen und zugleich gebrochenen Schönheit, so wie die Tausenden Kunstnelken, nachdem das Ensemble fast zwei Stunden tanzend hindurchgepflügt ist.

Obwohl diese über 40 Jahre alten Stücke so gar nicht aus der Zeit gefallen wirken, mag man trotzdem von der oft bemühten Aktualität nicht sprechen; zu überzeitlich wirken die Bilder von den Nachtseiten des Seins, von Schönheit und Zerstörung. Wie man das nennen soll? Vielleicht einen Schauer des Unendlichen.

Impulstanz Wien: Sog der Sinnlichkeit

Mit „In C“ von Sasha Waltz geht es überwältigend weiter. Terry Rileys Klassiker der Minimal Music spielt das Post-Rock-Trio The Young Gods live ein: ein Wabern aus sich wiederholenden Mustern, das einen wie in Trance versetzt. Auch die Tänzer bewegen sich, immer neu gruppierend, in Loops, während sich von hinten wahre Sturzbäche aus farbigem Licht über die Bühne und in den Saal ergießen.

Die Elemente – Musik, Bewegung, Licht, Farbe – sind so einfach wie wirkungsvoll. Man spürt, dass dieser Abend während der Corona-Krise entstanden ist, als die leibliche Begegnung ins Digitale verbannt wurde (auch „In C“ wurde zunächst ohne Live-Publikum im Stream gezeigt). Nun ist „In C“ das Gegenprogramm, ein sensationeller Sog der Sinnlichkeit.

Tanz als Antwort auf eine krisengeplagte Gegenwart (ausgehend wieder von der Corona-Zeit) beschwört auch die dänische Choreografin Mette Ingvartsen mit „Delirious Night“, einem nächtlichen Rausch in Grellgrün. Halbnackt mit Totenkopf- und Dämonenmasken gerät ihre Brüsseler Compagnie in eine Tanzwut, die nicht mehr zu stoppen scheint, ein eskalierender Maskenball der Extreme zwischen religiöser Ekstase und Rave.

Ist es dem Tanz aufgetragen, die sinnliche Wirklichkeit zu erretten? Stücke wie „Delirious Night“ zeigen auch, wie sich das Bewegungsmaterial rasant ändert. Der individuelle Ausdruck triumphiert über soziale Norm. So gehen immer mehr populäre Formen wie Club Culture (auch in der Ode an die schwule Subkultur „Lamentations“) oder Poledance (in „Selfist“) in den heutigen Tanz ein, während die Herkunft aus dem modernen Ballett immer weniger eine Rolle spielt.

Hintenrum frei

Wo steht der Tanz heute? Das fragt Doris Uhlich in „Come Back Again“, einem leiseren Abend der künstlerischen und institutionellen Selbstverständigung. Auf der Bühne sitzt Susanne Kirnbauer-Bundy, die einst die berühmte Primaballerina der Wiener Staatsoper war, und zählt bis 82. So alt ist sie inzwischen, ihre Ballettkarriere ist längst vorbei, und doch tritt sie an diesem Abend im Riesentütü auf und tanzt mit Uhlich zu Techno.

Es ist eine Begegnung verschiedener Generationen und Stile, wie auch bei „Brel“ – direkt aus Avignon nach Wien kommend – von Anne Teresa De Keersmaeker, die im Duett mit dem über 40 Jahre jüngeren Solal Mariotte tanzt. De Keersmaeker, längst eine Legende des zeitgenössischen Tanzes, kommt noch vom Ballett, Mariotte hingegen vom Breakdance.

Auch für Liebhaber der Extremperformances à la Florentina Holzinger gibt es beim Impulstanz einiges zu sehen, wie den jungen Nachwuchsstar Luca Bonamore und seinen volltätowierten Bühnenpartner im Hintenrum-frei-Slip. Es kommt ein Plastikhandschuh, ein Bottich Gleitgel und eine Schaukel zum Einsatz – und wer sich bisher unter dem Begriff Anal-Fisting nicht viel vorstellen konnte, weiß nun Bescheid.

Die jungen Hipster im Publikum kichern aufgeregt, doch eine Grenzüberschreitung macht noch kein Kunsterlebnis. Und doch: Zur Halbzeit des Impulstanz-Festivals und mit Blick auf die großen Namen im Programm kann gesagt werden, dass es immer wieder gelingt, einer unsinnlichen Welt nicht nur etwas, sondern sehr viel entgegenzusetzen.

„ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival“, bis zum 10. August 2025, verschiedene Aufführungsorte, Wien

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