Jean-Remy von Matt, 1952 in Brüssel geboren und Schweizer Staatsbürger, hat Jung von Matt mitbegründet, eine der bekanntesten Agenturen Europas, und war ihr kreativer Kopf. Mit Kampagnen für Sixt, Edeka oder Mercedes-Benz hat er über Jahrzehnte die deutsche Werbung geprägt, Slogans wie „Wer hat’s erfunden?“ oder „BILD Dir Deine Meinung“ haben einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis der Nation.

Jetzt hat Jean-Remy von Matt seine Erinnerungen geschrieben: „Am Ende. Erlebnisse und Erkenntnisse aus meinem kreativen Leben“ erscheint am 31. Juli bei Econ (240 Seiten, 25 Euro) und hat, wie es sich für einen legendär erfolgreichen Werber gehört, natürlich auch einen Unique Point of Sale. Es sei das erste Buch, das von Anfang bis Ende vorsätzlich immer schlechter würde, behauptet sein Autor. Dafür hat er jedes Kapitel von einer Jury bewerten lassen und die Texte entsprechend angeordnet. Ein exklusiver Auszug vorab – natürlich aus den frühen Kapiteln des Buchs.

The Medium is the Brotbrett

Die erfolgloseste Phase meines Lebens war meine Schulzeit – bisher zumindest. Ich taumelte von einer Minderleistung zur nächsten und sah nirgends eine Inspiration, mein Bestes zu geben – mit einer Ausnahme. Sie hieß Graziella und war die Prinzessin unserer Grundschule. Ich hätte alles dafür getan, ihr Auserwählter zu werden. Und am Ende war dafür gar nicht so viel nötig – etwas Kreativität, der Glaube an Erfolg und materielle Hilfe von meiner Mutter.

Aber von ganz vorne: Eines Tages übergab ich Graziella ein Blatt mit dem bewährten, aber wenig originellen Text: Willst Du mit mir gehen? Mit meiner Schrift hatte ich mir mehr Mühe gegeben – jeder Buchstabe hatte seine eigene Farbe. Schneller als ich gucken konnte, zerriss sie das Blatt. Damit weckte sie in mir einen Ehrgeiz, der mich erfinderisch machte.

Am nächsten Morgen ging ich erneut auf Graziella zu – selber Text, selbe Gestaltung. Aber mit der Hoffnung auf ein besseres Ende, denn diesmal auf fester Pappe. Grinsend sah ich zu, wie schwer sie sich beim Zerreißen tat. Offensichtlich war ich auf Kurs, sodass ich zu einem letzten Versuch ansetzte: erneut der Text, erneut die Gestaltung, doch in die Materialfrage hatte sich meine fürsorgliche Mutter eingeschaltet – und bot mir für das Finale ihr Brotbrett an.

Strotzend vor Optimismus betrat ich den Klassenraum. Graziella sah mich, dann das Brett. Sie rührte es gar nicht erst an, doch ich konnte ihr ein Lächeln ins Gesicht zaubern – viele weitere sollten folgen. Ein Erfolg, der nur durch eine markante Idee möglich wurde – viele weitere sollten folgen. Wie oft habe ich versucht, mit konservativen Optimierungen ein Ergebnis zu verbessern. Und wie oft brachte erst Disruption den Durchbruch. „Subtil nützt nicht viel“, schrieb mir einmal ein Deutschlehrer unter einen Aufsatz.

Über Edith und Erich

Als kreativer Geist hat man geborene Feinde und Freunde. Ersteres sind die Ja-aber-Menschen, zweiteres die Warum-nicht-Menschen. Der Unterschied ist einfach: Der Ja-aber-Mensch bedenkt, bevor er denkt, sucht bei jeder Idee als erstes nach Gründen dagegen und lehnt sich entspannt zurück, wenn er welche gefunden hat. Der Warum-nicht-Mensch begegnet allem Neuen erstmal mit Optimismus. Sofort sucht er nach den Chancen, sodass die Bedenken hinterher als das erscheinen, was sie in den meisten Fällen sind – vernachlässigenswert.

Die radikalsten Vertreter dieser zweiten Art, die in meinem Leben eine Rolle spielten, waren: der Unternehmer Erich Sixt und die Hausfrau Edith von Matt. Egal, mit welcher Idee wir Kinder ankamen – unsere Mutter erschrak nie. Als wir einmal mitten im Hochsommer Skilaufen wollten, hätte jede normale Mutter der Welt Fragen gestellt: „Skilaufen jetzt? Seid Ihr verrückt? Geht doch schwimmen bei den Temperaturen!“ Unsere Mutter überlegte kurz, besorgte Schmierseife und präparierte den einzigen Grashügel in unserem Garten so, dass mittlere bis schwere Abfahrten möglich wurden. Zu ihrer Entlastung sei angemerkt, dass ihr Vater Seifenfabrikant und die Nachhaltigkeits-Idee noch Jahrzehnte entfernt war.

Würde sie heute trotzdem noch so handeln? Ich fürchte, ja! Denn sie liebte radikale Lösungen mehr als alles andere – und wir liebten sie dafür. Wenn ich heute an Skipisten im Grünen vorbeifahre, die mit Schneekanonen dürftig befahrbar gemacht wurden, sage ich leise vor mich hin: Mama hätte es mit Schmierseife gelöst.“

Auch Erich Sixt erschrak nie – egal, mit welcher Idee man ankam. Auch nicht, als wir vorschlugen, mit Angela Merkel für seine Cabrio-Flotte zu werben. Oder mit dem Papstmobil für seinen Limousinen-Service. Ich erinnere mich nur an eine Situation, in der ich vergeblich auf ein „Warum nicht?“ von Erich Sixt wartete.

Als das Missverhältnis zwischen dem Arbeitsaufwand und dem Honorar dafür immer größer wurde, schickte mich unser Finanzvorstand nach Pullach. Doch meine Zuversicht, gegen den virtuosen Verhandler Sixt eine gerechtere Preisliste durchzusetzen, verflog schon auf dem Flug. Also dachte ich über einen Plan B nach. Ich skizzierte ein Motiv, das meinen Partner Holger Jung und mich als Bettler zeigt. Überschrift: Damit Sie noch günstiger Autos mieten können, haben wir unsere Werbeleute im Preis gedrückt.

Wie erwartet, war meine neue Preisliste schon nach wenigen Minuten vom Tisch. Also sagte ich, dass es für eine weitere Zusammenarbeit mit uns nur noch eine letzte Chance gebe: die Veröffentlichung des skizzierten Motivs an allen Flughäfen und in allen großen Zeitungen. Sixt schaute kurz auf meine Skizze – und da war es wieder, dieses einzigartige „Warum nicht?“

Die Sargträger der Innovation

Ideen leben gefährlich. Wann immer ich eine aus der Hand gab, kam es mir vor, als würde ich ein Kleinkind unbegleitet in eine bedrohliche Welt entlassen – als müsste ich zusehen, wie es alleine eine 8-spurige Stadtautobahn überquert. Man macht sich große Sorgen – meistens zu Recht.

In Wahrheit ist die 8-spurige Stadtautobahn ein 8-köpfiges Meeting, bei dem mindestens eine Person folgendem Muster entspricht: eloquent, höflich und meistens korrekter angezogen als die übrigen Teilnehmenden. Zunächst zugewandt wirkend, doch dann erhebt sich eine Hand: Darf ich etwas anmerken?

Man nennt sie Bedenkenträger, aber in Wirklichkeit sind sie Sargträger – die Sargträger der Innovation. Und die Todfeinde aller Ideen. Bedenken kommen in Vernunft verpackt daher und wirken erwachsen. Begeisterung dagegen wirkt immer kindlich und macht sich in der rationalen Welt der Wirtschaft verdächtig. Ein einziges Mal durfte ich erleben, wie der Chef einer großen Bankengruppe vor Freude über eine Idee auf den Konferenztisch sprang. Danke, Andreas Treichl!

Nie sollte man Bedenkenträger unterschätzen, denn nur wer denkt, kann auch bedenken! Doch oft ist es ein destruktives, problemorientiertes, blockierendes Denken im kleinen Karo. Meistens fehlt das große Bild.

Aber was tun? In Notwehr habe ich mir eine eigene Waffe gegen Bedenkenträger ausgedacht. Sie nutzt die Tatsache, dass niemand einer sein will. Wenn jemand Bedenken äußert, benenne ich diese nie mit „Ihr Einwand“, sondern grundsätzlich mit „die Bedenken, die Sie tragen“. Das mache ich so konsequent und so häufig, bis der Begriff „Bedenkenträger“ wie eine Wolke im Raum schwebt – und sich jemand darunter sehr einsam fühlt.

In einem Fall war diese Taktik unnötig, weil das Schicksal das Problem alleine lösen konnte. Wir hatten einen TV-Spot für Jever gedreht, das herbe Bier von der Nordseeküste. Er zeigt einen Mann in dieser rauen Landschaft, kommentiert von einer warmen, ruhigen Stimme: „Keine Staus, keine Hektik, keine Anrufe, keine Termine, keine Kompromisse, kein anderes Bier.“

Zuletzt lässt sich der Darsteller mit ausgebreiteten Armen rückwärts in die Dünen fallen. Eine ikonische Szene – die wichtigste des gesamten Films. Doch genau an dieser Szene entzündete sich eine Diskussion. Bedenken füllten den Raum: Fällt er etwa hin, weil er betrunken ist? Darf ein Konsument unserer Marke Schwäche zeigen? Warum brauchen wir diese Szene, wenn sie nur zu Fragen führt?

Der Marketingdirektor zwang Deneke, den federführenden Kreativen, die Szene rauszuschneiden. Und da dieser Werbeetat zu den wichtigsten zählte, tat er, wie ihm befohlen. Mitte der 90er-Jahre war das noch ein sehr aufwendiger Arbeitsschritt, da ein Cutter das Filmmaterial aus Zelluloid mit den Händen neu schneiden musste.

Mit dem beschnittenen Werbefilm fuhr Deneke im Taxi vom Schneideraum zur Agentur zurück. Da klingelte sein Handy. Am Apparat der Vertriebsvorstand; er hatte gerade den Marketingdirektor entlassen. Also wies Deneke den Taxifahrer an, einen U-Turn zu machen, und schnitt die Szene wieder rein.

Die Brauerei setzte den gefallenen Genießer elf Jahre lang ein – kein Werbefilm unserer Agenturgeschichte lief länger. Am meisten freute sich darüber der Darsteller, der für jedes Jahr Buyouts in Rechnung stellen konnte – sie wurden ohne Bedenken bezahlt.

Meine bangste Minute

In einer legendären Filmszene wird Tom Hanks als Forrest Gump für seine Verdienste als Pingpongspieler geehrt – vom amerikanischen Präsidenten. Ist es wirklich viel anders, wenn man für seine Verdienste als Werbetexter geehrt wird – vom Bundeskanzler?

Nach der Laudatio danken die Geehrten normalerweise den Weggefährten, die diese Ehrung überhaupt möglich gemacht haben. Und gerade in der Kreativindustrie ist man auf Partner und Partnerinnen angewiesen, um seine Ideen zum Leben und zum Wirken zu bringen. Doch ich wollte mit der Dankesrede dem Erwartbaren trotzen und mein Credo zum Thema machen, das alle Kreativen betrifft: Kreativität ist ein hochwirksamer Stoff, aber genauso eine leicht verderbliche Ware. Wenn eine Idee nicht als Ganzes geschützt wird, geht es ihr wie einer Salami auf dem Buffet: Sobald sie angeschnitten ist, ist die Hemmung weg, noch ein Scheibchen abzuschneiden. Und noch eins. Fast unmerklich schwindet sie, bis nichts mehr von ihr übrig ist.

Die geringsten Überlebenschancen haben Ideen in einem angstgetriebenen Umfeld. Täglich sterben sie dort qualvolle Tode. Mal werden sie von Bedenken erstickt, mal werden sie in Diskussionen zu Grabe getragen oder einfach abgeschossen. Sie werden totgetestet oder geraten in einen Hinterhalt von Killerargumenten.

Warum gab es eigentlich noch nie eine Schweigeminute für alle verstorbenen Ideen? War das zynisch angesichts der ernsthaften Schweigeminuten nach Katastrophen und Anschlägen? Vor über 300 festlich gekleideten Gästen in Anwesenheit des Bundeskanzlers? Und was, wenn sich alle erheben, aber er nicht? Ich war unsicher.

Mein unerschrockener Partner Holger Jung machte mir Mut: Wenn es schiefgeht, wird es der Saal erst recht nicht vergessen. Alle anderen rieten mir ab, vor allem mein Bruder Dominique, mein wichtigstes Regulativ in Fragen politischer Korrektheit. Ich argumentierte, dass es mir keineswegs nur um Werbeideen gehe, sondern um die großen Ideen, die Leben verbessern oder sogar retten: medizinische Ideen, Umweltideen, Ideen zum Lösen politischer Konflikte. Er blieb skeptisch: Warum willst Du bei Deiner größten Ehrung ein Risiko eingehen?

Risikoscheu ist genau das, was viele Ideen das Leben kostet – das Krebsgeschwür der Kreativität. Dann lieber Risiko!

Alle standen auf. Und alle standen still, auch Gerhard Schröder. Danach dankte ich ihm und dem Publikum, dass meine Idee der Schweigeminute überleben durfte. Und erinnerte nochmal an die großen Gefahren, denen jede noch nie dagewesene Idee auf ihrem Weg ins Leben ausgesetzt ist. Am darauffolgenden Tag rief mich ein Freund an: „Ich habe gehört, Du wurdest vom Bundeskanzler geehrt. Toll, aber wofür eigentlich?“ Ich wählte den Notausgang der Gegenfrage: „Spielt das eine Rolle?“

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