Um ein Haar wäre der heute weltberühmte Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie Carl Gustav Jung (1875–1961) nicht Arzt, sondern wie sein Vater Pfarrer geworden. Davon abgehalten hat ihn ein Wachtraum auf dem Basler Münsterplatz.
Kot und Kirche
Aus heiterem Himmel erschien dem Zehnjährigen eine gottähnliche Figur auf einem Thron und liess ein riesengrosses Exkrement fallen. Direkt auf das Basler Münster pflatschte es.
Eine schockierende und wegweisende Erfahrung für den frommen Jungen. Für ihn: ein Wink mit dem Zaunpfahl, die theologische Karriere zu meiden. So widmete er sich später der Medizin und wurde Arzt an der psychiatrischen Uniklinik Burghölzli in Zürich.
Social Media, Beatles und Hollywood
So wurde Jung zu dem, als den wir ihn kennen: ein Pionier der Tiefenpsychologie. Ihm lag die Selbstentwicklung des Menschen am Herzen. Eines seiner zentralen Anliegen wird häufig mit «werde, der Du bist» paraphrasiert. Er selbst nannte dies «Individuation». Dieser Prozess hat das Ziel, durch die einzelnen Lebensphasen hindurch authentisch zu werden.
Sich aufmerksam dem Ich und seiner Befindlichkeit zu widmen und die eigene Resilienz zu stärken sind Motive, die wir heute gut kennen. Das dürfte einer der Gründe sein, weshalb auf Social Media regelmässig Zitate von Jung mit seinem Konterfei zirkulieren.
Auch in der Popkultur wurden seine Ideen und Theorien adaptiert. Er ist zum Beispiel auf dem Cover des «Sergeant Pepper»-Albums («Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band») der Beatles zu sehen.

Seine Theorie der Archetypen, also universellen Grundmustern des menschlichen Erlebens – etwa der Held, die Mutter oder der Schatten – wurde in Filmen wie «Herr der Ringe» oder «Star Wars» aufgenommen, und in «A Dangerous Method» wird Jung 2011 von Michael Fassbender gemimt.
Faible fürs Übersinnliche
Dass die Halluzination auf dem Münsterplatz handlungsleitend wurde, sagt viel über Jung und seine grosse Faszination für Mythologie, Alchemie und Träume aus. Sogar seine Dissertation widmete er dem Thema Geisterglauben.
Zeitlebens sei C. G. Jung ein gläubiger Mensch gewesen, erzählt der Psychologe und Wissenschaftsjournalist Steve Ayan. Davon zeugt auch das Eingangsportal seines Hauses in Küsnacht am Zürichsee, das heute ein Museum beherbergt. Dort findet sich das Motto «vocatus atque non vocatus, deus aderit» eingemeisselt, zu Deutsch: Gerufen oder nicht, Gott wird da sein.
Welcher Gott das für Jung war, ist nicht ganz klar. Er beschäftigte sich auch mit östlicher Spiritualität und Reinkarnation. Mit einem Bein in der Wissenschaft, mit dem anderen in der Esoterik? Die Fähigkeit, Brücken zu schlagen, war vermutlich Teil seines Erfolgsrezepts.
So ging es Jung auch mehr um das Gefühl der Verbindung mit etwas Höherem. «Für ihn war das Unbewusste gewissermassen gleichbedeutend mit Gott.» Sich mit etwas so Grossem, Überdauerndem verbunden zu fühlen, gehe mit einer enormen Selbstaufwertung einher, so Ayan.
Rassismus-Kritik
Allerdings gibt es auch Kritik am Weisen vom Zürichsee. Seine Schriften enthalten problematische Passagen. In den 1930er-Jahren äusserte er sich wiederholt zur «unterschiedlichen seelischen Struktur» von «Ariern» und «Juden».
«Er hat schon in den Schriften nach dem Ersten Weltkrieg zwischen dem jüdischen und dem germanischen Unbewussten unterschieden und ihnen verschiedene Eigenschaften zugewiesen», so Ayan. Ein Versuch, kulturelle Unterschiede psychologisch zu deuten, der heute als rassistisch kritisiert wird. Jung selbst versuchte diese Äusserungen nach dem Krieg als missverstanden oder aus dem Kontext gerissen darzustellen.
Schwammige Persönlichkeitstests?
Jung blieb attraktiv. Nicht nur in der Psychotherapie, sondern auch im Assessmentprozess grösserer Unternehmen, in der Coachingszene oder im Milieu der Selbstverwirklichung, wo Podcasts und Psychologie-Ratgeber wie Pilze aus dem Boden schiessen, steht Jung im Hintergrund Pate.
Obwohl er nie etwas damit zu tun hatte, lebt seine Lehre der Archetypen etwa im MBTI, dem Myers-Briggs-Typenindikator, fort, einem alltagspsychologischen Persönlichkeitstest, den man online in zehn Minuten durchgeführt hat und auf dessen Basis man mehr über die eigenen Stärken und Schwächen erfahren soll.
Allerdings weist der Test selbst gravierende Mankos auf. Die Einteilung sei wissenschaftlich wertlos, weil er ausschliesslich auf Entweder-oder-Kategorien basiere. «Man ist entweder ein Fühl- oder Denktyp, das wird bestimmt durch Befragungen wie zum Beispiel: ‹Mögen Sie lieber Liebesromane oder Kriminalromane?›», kritisiert der Psychologe Ayan.
Bruch mit Freud
Ayan hat 2024 ein Buch über die Geschichte der Psychotherapie geschrieben: «Seelenzauber. Das Jahrhundert der Psychologie» zeichnet nach, wie exzentrische Figuren rund um Sigmund Freud über das Unbewusste nachdachten – und neue Therapieformen entwickelten, die Menschen in einer Zeit des Aufbruchs helfen sollten, ihre eigene Psyche zu entschlüsseln.
Ein fruchtbarer Boden, den auch Carl Gustav Jung beackerte. Das sollte 1913 zum Bruch mit Sigmund Freud führen. Der 20 Jahre ältere Begründer der Psychoanalyse war für Jung wie ein Ziehvater. Die Freundschaft der beiden begann mit einem 13-stündigen Gespräch in Wien – und endete in einem persönlichen und intellektuellen Zerwürfnis.

Freud sah in Jung seinen geistigen Erben, den «Kronprinzen» der Psychoanalyse. Bloss: Jung ging Freuds Theorie des Unbewussten nicht weit genug – sie sei zu sehr auf Sexualität verengt, zu mechanistisch gedacht. Er glaubte an eine tiefere, transzendente Dimension der Seele.
Jungs Krise
Jung beschreibt diese krisenhafte Zeit als «Auseinandersetzung mit dem Unbewussten» und dokumentierte sie im sogenannten «Roten Buch». Er sei damals in eine Dunkelheit abgeglitten, habe sich «einwärts und abwärts bewegt» und seiner «eigenen Psyche entlanggetastet».
Bezeichnenderweise wurde die Krise zum Katalysator seiner eigenen Theorie: Statt nur das Vergangene zu deuten, wollte Jung dem Menschen helfen, zu sich selbst zu finden.
Phönix aus der Asche
In den folgenden Jahrzehnten entwickelte er ein psychologisches Weltbild, das den Menschen ganzheitlich betrachtete: Mythen, Träume und Sehnsüchte. Eine Lehre, die zunächst skeptisch beäugt wurde, weil sie zu mystisch und nicht empirisch gestützt ist. Heute treibt sie neue Blüten.
Begriffe wie Schatten, Archetypen oder das Selbst tauchen in Coachingangeboten, Podcasts und Alltagspsychologie auf, häufig ohne direkten Verweis auf seine Theorie.
Dabei trifft Jung wohl einen Nerv: Er bietet eine Sicht auf die Psyche, die nicht nur auf Symptome zielt. Sein Modell betont die Bedeutung von Symbolen und innerem Wandel – Elemente, die in einer zunehmend rationalisierten Welt offenbar wieder gefragt sind.
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