Der 20. Juli gilt in Deutschland als Tag des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Vielleicht ist es Zufall, vielleicht aber auch Schicksal, dass das ARD-Sommerinterview mit Alice Weidel ausgerechnet am 20. Juli 2025 stattfindet. Ort des Geschehens ist die Dachterrasse des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses. Marie-Elisabeth Lüders war eine Frauenrechtlerin, die von den Nationalsozialisten mit einem Berufs-, Rede- und Publikationsverbot überzogen wurde. Die für mehrere Monate in Gestapo-Haft geriet. Und die zu den 0,3 Prozent der deutschen Bevölkerung zählt, die damals Juden in ihrer Wohnung versteckt haben.
Es ist ein schöner Tag. Die Sonne scheint. Gegenüber der Dachterrasse des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses haben sich Menschen am Spreeufer versammelt. Es sind nicht viele. Nur eine Handvoll. Aber sie machen Krach. Sie rufen Parolen. Auf einem Banner stehen die Buchstaben "FCK AFD". Auch die "Omas gegen Rechts" sind angereist. Mitten im Interview erreicht ein Bus des Künstlerkollektivs "Zentrum für politische Schönheit" den Veranstaltungsort und lässt über Lautsprecher die Worte "Scheiß AfD" abspielen. Gesungen in der Melodie eines Kirchenchores.

Als Alice Weidel das hört, muss sie kurz lachen. Es ist auch alles ein wenig surreal. Wie die Vorsitzende einer rechtsextremen Partei, die pausenlos gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk wettert, ausgerechnet an diesem Tag ausgerechnet auf dieser Dachterrasse sitzt und sich ausgerechnet von einem freundlichen Moderator des öffentlich-rechtlichen Rundfunks befragen lässt.
Dabei gäbe es tatsächlich einiges zu besprechen.
Die Vorfälle mehren sich
Am 28. Juni veröffentlicht das "Redaktionsnetzwerk Deutschland" eine Antwort des Bundesamts für Verfassungsschutz, wonach das Erstarken von Neonazi-Jugendorganisationen für Homosexuelle, Linke und Migranten eine latente Gefahr für Leib und Leben darstelle.
Am 18. Juli berichtet die Bürgermeisterin von Spremberg im Amtsblatt der Stadt über eine "Flut von Schmierereien, verfassungsfeindlichen Symbolen und die Verherrlichung von Adolf Hitler mitten in der Stadt". Ebenfalls am 18. Juli veröffentlicht das Lehrer-Portal "News4Teachers" einen Beitrag über die steigende rassistische Gewalt an Schulen, überschrieben mit dem Titel "Wie umgehen mit mehr Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt an Schulen?".
Am 23. Juli berichtet der "Tagesspiegel", wie eine Berliner Grundschulklasse bei einem Ausflug nach Mecklenburg-Vorpommern zum Ziel rassistischer Anfeindungen wird. Schüler aus zwei Brandenburger Schulen sollen die Berliner Kinder tagelang rassistisch bedroht haben. Mindestens einmal soll einer dieser Schüler den Hitlergruß gezeigt haben. Ebenfalls am 23. Juli veröffentlicht der "rbb" eine erschreckende Reportage über das Erstarken von Neonazi-Strukturen in der Lausitz. Am selben Tag wird öffentlich, dass die Polizei die Wohnungen mehrerer mutmaßlicher Rechtsextremisten in Berlin Marzahn-Hellersdorf durchsucht. Allein im Bezirk Marzahn-Hellersdorf wurden im vergangenen Jahr 1000 rechtsextreme Vorfälle registriert, im Schnitt drei am Tag. Auf der Webseite des Magazins "PCGames" erscheint am 23. Juli eine Reportage über Rechtsextremismus im Gaming. Das traurige Fazit der Autoren: "Fehlende Moderation, ein toxisches Grundrauschen und mangelnde Gegenwehr führten dazu (…) dass sich Rechtsextreme in digitalen Räumen zunehmend wohlfühlen."

Umfrage Das läuft in Deutschland richtig gut, Frau Weidel!
Zwei Tage nach dem Interview scheitert die Partei mit einer Beschwerde vor Gericht und gilt nun rechtskräftig als "rechtsextremistischer Verdachtsfall". Über die Bedrohungslage durch Rechtsextreme und Neonazis hat der stern bereits im April in einer groß angelegten Investigativ-Recherche berichtet. Man hätte Alice Weidel damit konfrontieren können. Man hätte die Vorsitzende einer rechtsextremistischen Partei zu alledem befragen können. Dass die Störung des Interviews dem entgegenstand, ist vor dem Hintergrund des Erkenntnisgewinns ärgerlich. Dass man in einer freiheitlichen Demokratie miteinander spricht, streitet und einander ausreden lässt, sollte eigentlich selbstverständlich sein.
Braucht es wirklich Solidarität mit Alice Weidel?
Andererseits. Ja, andererseits. Wie soll man einer wachsamen Zivilgesellschaft verübeln, dass sie sich gegen die Normalisierung des Rechtsextremismus zur Wehr setzt? Dass sie mit kreativen und künstlerischen Mitteln die Verbreitung einer menschenfeindlichen und rechtsextremen Ideologie Einhalt gebietet?
Im Anschluss an das Gespräch mit Alice Weidel kreist die Berichterstattung tagelang nur um die Störung des Interviews. Kaum jemand interessiert sich für die rechtsextreme Bedrohungslage. Aus der Regierungskoalition hört man kein Wort zur Gefahr durch die Neonazi-Netzwerke in Deutschland. Allein in der "Welt" erscheinen innerhalb von drei Tagen 20 Artikel, in denen es beinahe ausschließlich um die Störung des Gesprächs geht. Einer der wenigen inhaltlichen Beiträge zum Alice-Weidel-Interview ist ein Video mit dem Ministerpräsidenten von Thüringen, dem CDU-Politiker Mario Voigt beim Format "Politiker Grillen". Voigt steht neben dem Chefredakteur der "Welt", hat eine Schürze umgebunden und wendet Würstchen auf einem Grill. Währenddessen spricht er über Alice Weidel und wirft ihr (kein Witz) mangelnden Patriotismus vor. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, darf in der "Welt" unwidersprochen über Linksextremismus, steuerfinanzierte NGOs und die "linksgrüne Klasse, die das Land im Würgegriff hält", fabulieren. Der "Welt"-Moderator, der das Interview mit ihm führt, ist derart freundlich und zurückhaltend, dass man meinen könnte, er sei nicht der Interviewpartner, sondern der Psychotherapeut des AfD-Politikers.

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Es ist bemerkenswert, wie viele CDU-Politiker Alice Weidel zur Seite springen. Nicht aber der Bürgermeisterin in Spremberg. Oder den zahlreichen Menschen, die von Neonazis und Rechtsextremen bedroht werden. Es ist leider kein bisschen überraschend, dass sich Konservative im Fall des Falles eher an die Seite der Rechtsextremen stellen als an die Seite derjenigen, die gegen Rechtsextreme demonstrieren oder von Rechtsextremen bedroht werden. Als sich Anfang des vergangenen Jahres die größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik gegen das Erstarken des Rechtsextremismus richteten, reagierten viele konservative Politiker und Journalisten mit Häme und Diffamierung. Einige meinten, wie auch jetzt, dass diese Demonstrationen die AfD eher stärken würden. Auch das erscheint als wiederkehrendes Muster: Während sich Menschen in zivilgesellschaftlichen Bündnissen der AfD entgegenstellen, müssen sie sich von konservativen Politikern anhören, Maßnahmen gegen Rechtsextremismus würden der AfD Vorschub leisten.

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Zu diesen Maßnahmen, so hört man zuweilen unironisch, gehörten ein Verbotsverfahren gegen die Partei, die Strafverfolgung ihrer Funktionäre, die Demonstrationen gegen Parteiveranstaltungen sowie ehrenamtliches Engagement für die Opfer rechtsextremer Gewalt. Was stattdessen die AfD verkleinere, so heißt es aus manchen Parteizentralen in Berlin, sei die Übernahme rechtsextremer Politik. Kampagnen gegen Ausländer und Arbeitslose. Vielleicht aber sollte man den Spieß einfach mal umdrehen und den Parteivorsitzenden der CDU, Friedrich Merz, an sein Versprechen erinnern, die AfD zu halbieren. Was ist eigentlich daraus geworden? Seit der Bundestagswahl hat die CDU 3,5 Prozentpunkte verloren und die AfD 4,7 Prozentpunkte hinzugewonnen. Beide Parteien sind nun gleichauf.
Müssten wir es nicht mittlerweile besser wissen?
Ich muss an ein Interview des "Spiegel" mit dem Holocaustüberlebenden Ralph Giordano denken. Im Jahr 1992, nach den Anschlägen von Rostock-Lichtenhagen und Mölln sagte Giordano etwas, was sich auch heute noch erschreckend aktuell anhört:
"Die deutschen Konservativen und ihre Führungsriege sind unfähig, sich von rechts wirklich bedroht zu fühlen. Für sie steht der eigentliche Feind immer noch links. Rechts – das sind irgendwie ungezogene Verwandte. Die von Bundeskanzler Kohl im Bundestag geübte Gleichsetzung von linker und rechter Gefahr in einer Situation so eindeutiger Demokratiebedrohung durch rechte Gewalttäter belegt das eindrucksvoll."
Der vielgerühmte Ausruf "Wehret den Anfängen" bedeutet etwas. Er bedeutet, dass man rechtsextreme Menschenfeinde aufhalten muss, solange es möglich ist. Das wäre gegenwärtig der Fall. Wenn es so weitergeht, allerdings nicht mehr lange.
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