Die schönste Szene in diesem wunderbaren, weisen und ziemlich wehmütigen Film ist die, in der getanzt wird. Zuerst sehen wir eine junge Frau mit rötlichem Haar die Straße einer amerikanischen Stadt entlangspazieren. Aus dem Off erfahren wir, dass sie einen unglücklichen Tag hinter sich hat: Ihr Freund hat sich per SMS von ihr getrennt. Sie geht, sie flucht, sie geht. Als Nächstes die Drummerin: eine junge schwarze Frau. Sie stellt den Hut auf die Straße, legt zwei Dollarscheine hinein, um die Passanten zu animieren, dass sie mehr geben, aber nichts passiert. Sie trommelt uninspiriert vor sich hin, versucht, in die richtige Stimmung (den „groove“) zu kommen. Drittens der Langweiler. Ein Typ im Anzug mit Aktentasche. Glatt rasiert, gegeltes Haar. Dass er für eine Bank arbeitet, versteht sich beinahe von selbst; Langweiler eben.
Als er auf die Trommlerin zuschlendert, begrüßt sie ihn aus gar keinem Grund mit wirbelnden Schlegeln. Der Langweiler im Anzug bleibt stehen, hört zu, dann – ein Wunder! – stellt er die Aktentasche ab. Plötzlich beginnt er zu tanzen. Und wie er tanzt! Als ginge es um sein Leben. (Schnitt: ein hölzerner Kochlöffel schlägt den Takt auf einem Topfrand. Warum ein Kochlöffel?) Passanten bilden einen Halbkreis, unter ihnen die junge Frau mit dem rötlichen Haar und dem Liebeskummer.
Der Langweiler, der gar nicht mehr langweilig ist, fordert sie auf; er nennt sie „kleine Schwester“. Die beiden wirbeln herum, die Drummerin schlägt Funken, naturgemäß ist die Szene perfekt choreografiert.
Um diesen Tanz zu entschlüsseln, muss leider heftig gespoilert werden. Es wird aber nichts vom Vergnügen des Films subtrahiert, wenn man schon vorher verrät, worum es geht. Also: Der Mann im Anzug ist Chuck Krantz. Seit seiner Kindheit wird er vom Tod verfolgt: Seine Eltern und seine ungeborene kleine Schwester kamen bei einem Autounfall ums Leben, er wuchs bei den Großeltern auf. Und nach dieser Tanzszene hat er selbst – wie uns die Erzählerstimme aus dem Off informiert – nur noch wenige Monate zu leben: In seinem Hirn wuchert schon der Tumor, bald wird er nicht mehr gehen, nicht mehr essen, nicht mehr reden können.
Der Sensenmann ist das einzige Monster
Stephen King, dem wir die Vorlage zu diesem Film (er heißt übrigens „The Life of Chuck“) verdanken, ist als Meister des Horrorgenres berühmt. Auch Mike Flanagan, der Regisseur, hat sich bisher mit Filmen hervorgetan, die sich um Gespenster, Vampire und andere Monster drehen. Das einzige Monster, das in „The Life of Chuck“ auftritt, ist aber der Sensenmann. In diesem Film wird der Skandal verhandelt, dass wir alle sterben müssen.
„The Life of Chuck“ beginnt wie ein Katastrophenschmachtfetzen: Die Welt geht unter. Kalifornien ist schon halb im Wasser versunken, in Deutschland ist ein Vulkan ausgebrochen, das Internet funktioniert seit Monaten nicht mehr. In all dem Chaos sucht ein Lehrer, gespielt von Chiwetel Eijofor, nach seiner geschiedenen Frau. An den Straßenecken erscheinen plötzlich seltsame Reklamebotschaften, auf denen einem Chuck Krantz – alle rätseln, wer das sein mag – für „39 wunderbare Jahre“ gedankt wird.
Das Genre des Katastrophenfilms verlangt, dass zwar die Welt untergeht, aber die Familie des Helden das Grauen irgendwie überlebt. Mike Flanagan bricht konsequent mit diesem Klischee: Alles geht in die Grützwurst, niemand bleibt übrig. Immerhin findet der Lehrer aber seine Ex-Frau. Gemeinsam sitzt das Liebespaar auf Stühlen und hält Händchen, während über ihm am Himmel mit sanftem Knall nacheinander die Sterne verschwinden. Endlich kapieren wir: Das Thema war nie die Apokalypse, ein einzelner Mensch verlischt. Am Sterbebett sitzen seine Frau und sein Sohn. Es gibt keinen Tunnel, der in die helle Ewigkeit führt, keine geflügelten Lichtgestalten schwirren herum. Von einem Leben nach dem Tod weiß dieser Film nichts.
Dann die Tanzszene. Chuck Krantz wird hier von dem britischen Schauspieler Tom Hiddleston verkörpert, der früher auch schon in Horrorfilmen aufgetreten ist, einem breiteren Publikum aber vor allem dadurch bekannt wurde, dass er in Filmen des Superheldengenres den nordischen Gott Loki gespielt hat. In „The Life of Chuck“ zeigt Hiddleston, dass er ein ernsthafter Charakterdarsteller ist. Und dass er tanzen kann, als wäre er der leibliche Sohn von Fred Astaire.
Kinderleicht, wenn man’s kann!
Der dritte und längste Teil des Films handelt von der Kindheit des Protagonisten. Chuck wird hier von Benjamin Kajak gespielt, ein Name, den man sich merken muss. Kajak gibt uns ein Kind voller Neugier, Klugheit und Gutherzigkeit; von seiner Großmutter (Mia Sara) lernt der junge Chuck das Tanzen.
Es ist schwer, in diese flotte Großmutter nicht verliebt zu sein. Hier kommt auch die Auflösung, was der Schnipsel mit dem hölzernen Kochlöffel zu bedeuten hat: Die flotte Großmutter tanzt beim Kochen gern Rock’n’Roll. Bald tanzt der kleine Chuck auch in der Schule und bringt seiner Klasse den Moonwalk bei: Fußballen aufs Parkett, nach hinten abziehen, auf die Zehenspitzen stellen. Kinderleicht, wenn man’s kann!
Chucks Großvater ist Mark Hamill, der einst (lang ist’s her) in „Krieg der Sterne“ den jungen Luke Skywalker gespielt hat. Man erkennt ihn hier kaum wieder – und nicht nur deshalb, weil er zum Silberhaar einen gewaltigen Schnurrbart trägt. Hamill kann (wie sich herausstellt, wenn man ihn machen lässt) mehr, als heldenhaft in die Kamera zu glotzen. Er ist ein großartiger Charakterdarsteller. Seit sein Sohn und seine Schwiegertochter tot sind, trinkt Chuck Großvater zu viel Bourbon. Außerdem hat er ein Geheimnis: das Turmzimmer.
In dem alten viktorianischen Haus, in dem Chuck groß wird, gibt es ein Turmzimmer, das er nicht betreten darf; ein großes Vorhängeschloss hängt davor. Und dieses Turmzimmer ist das einzige Zugeständnis, das Stephen King und Mike Flanagan an das Spukfilmgenre machen. Man geht dort wirklich besser nicht hinein, wenn einem seine geistige Gesundheit lieb ist. In einer wichtigen Szene klaut Chuck seinem Großvater den Schlüssel. Gerade als er die Schwelle ins Turmzimmer überschreiten will, holt der Großvater ihn ein und reißt ihn heftig, beinahe brutal zurück; dabei passiert es ihm, dass er selber in das Spukzimmer schaut. Was sich danach auf seinem Gesicht abzeichnet, vergisst der Kinozuschauer nicht mehr so schnell.
Es gibt in Amerika das Genre des „Hallmark Movie“. Nicht jedes „Hallmark Movie“ ist schlecht, alle sind erhebend. Die Filme werden von einem Fernsehsender produziert, der sich auf christliche Themen spezialisiert hat. In der Vorweihnachtszeit geht es in „Hallmark Movies“ meistens um dramatische Familienstreitigkeiten, die zu guter Letzt unter dem leuchtenden Lichterbaum beigelegt werden können. In anderen Filmen werden Heldinnen und Helden auf schwere bis schreckliche Proben gestellt, die sich nur mit guten Taten und einer kräftigen Prise Gläubigkeit bewältigen lassen. „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ (1. Korintherbrief 15). „The Life of Chuck“ ist ein Anti-Hallmark-Movie: Nichts kann überwunden werden, ein Ausweg existiert nicht, der Sieg des Sensenmannes ist absolut, und Gott glänzt durch Abwesenheit. Trotzdem ist „The Life of Chuck“ kein nihilistischer Film. Es gibt zwar keinen metaphysischen Sinn, aber doch einen erzählerischen Zusammenhang; jedes Detail, das in diesem Film vorkommt, wird anderswo wieder aufgenommen, in einen erklärenden Kontext gestellt. Achten Sie auf das Rollschuh laufende Mädchen in der Tanzszene!
Chuck Krantz ist Jude; er nennt seinen Großvater „Sejde“ und seine Großmutter „Bubbe“, beim Begräbnis seiner Großmutter trägt er eine schwarze Kappe auf dem Hinterkopf. Und so kann man beim Zuschauen an den bekannten Spruch aus dem Talmud denken, dass jeder Mensch eine Welt ist, was natürlich bedeutet, dass mit jedem Tod auch eine Welt untergeht. Nebbich! Mich erinnerte „The Life of Chuck“ eher an einen berühmten Satz von Rabbi Nachman, dem Breslauer Chassiden: kol ha-olam kulo gescher zar me’od we ha-ikar lo lefached k’lal. Israelische Schulkinder können das singen: „Die ganze Welt ist eine schmale Brücke, und das Wichtige ist, überhaupt keine Angst zu haben.“
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