Er war links, und ich bin Mitte. Mit solchen Begriffen muss man heute vorsichtig sein, aber ich berichte von einer Zeit, als es noch möglich war, sich so richtig zu streiten und einander trotzdem mit gutem Gewissen in die Augen sehen zu können. Und natürlich sind die Nachrufe, in denen der Nachrufende dem Verstorbenen Anekdoten über große Begegnungen zuruft, immer die schlechtesten, weil eitel. Ich versuche es trotzdem – weil früher alles anders war. Und tatsächlich sogar besser.

Ich war damals Chefredakteur der „B.Z.“, der größten Berliner Zeitung, und Claus Peymann Chef des Berliner Ensembles – des damals bestbesuchten (und besten) Theaters der Hauptstadt. Die Fronten schienen klar. Die Theater-Szene stand für eine andere Idee von Politik und Gesellschaft. Reibung war vorprogrammiert, und die Hitze natürlich auch. Wir haben uns persönlich nur ein paar Mal getroffen, und wir wussten dann eher nicht, wer wir waren – so als Menschen. Aber wir wussten, wofür wir standen.

Christian Klar, der RAF-Terrorist, war 1995 wegen neunfachen Mordes (an Siegfried Buback, Jürgen Ponto und Hanns Martin Schleyer sowie deren Begleitern) zu fünfmal lebenslänglich plus 15 Jahre Haft verurteilt worden. Später wurde eine Mindesthaftzeit von 26 Jahren verhängt. Das war viel – aber eine Art Rabatt. Doch es geht hier nicht um Juristenschelte, sondern darum, wie wir mit verschiedenen Ansätzen umgegangen sind.

2007, als sich das Ende von Klars zusammengefasster und dann verkürzter Strafe näherte, bot ihm Claus Peymann einen Praktikumsplatz am Berliner Ensemble („BE“) an – damit er sich zu einem besseren Menschen läutere, indem er Lampen schiebe.

Meine Einstellung – und die vieler Berliner – war eine andere. Warum wurde einem der grausamsten Terroristen der deutschen Nachkriegsgeschichte eine – nun, eher luxuriöse – Beschäftigung im Herzen der Hauptstadt angeboten? Wäre Resozialisierung nicht auch niederschwelliger möglich gewesen – beispielsweise am Stadttheater Fischbach? Wollte Peymann Klar helfen, oder war es eine bewusste Provokation? Natürlich Letzteres.

Es war ein großes Thema – über Wochen und Monate. Alle warteten, wie es werden würde, wenn Klar käme. Und wir, die „B.Z.“, waren als erste da – und veröffentlichten ein Foto von Klar vor dem „BE“-Logo. Die Schlagzeile: „Klar da!“

Einen Tag später wurde das Praktikumsangebot von Peymann zurückgezogen. Wir titelten: „Klar weg!“ Das war so lustig wie sachlich richtig – und es war auch gut so. Nach vielen Jahren juristischer Auseinandersetzung urteilte das höchste deutsche Gericht – sehr knapp –, dass das Resozialisierungsinteresse des RAF-Killers höher zu bewerten sei als das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, zu wissen, dass Klar nun in Berlins Mitte Praktikant sei. Verstehe ich bis heute nicht – aber auch darum geht es nicht.

Das linke Feuilleton wutschäumte schon am ersten Tag: Die B.Z. habe Peymanns hehres Ziel, einem Straftäter die Möglichkeit zu geben, in ein normales Leben zurückzukehren (nach neunfachem Mord, by the way!), zunichtegemacht. Und Claus Peymann würde natürlich nie mehr mit der „B.Z.“ sprechen. Sie sei der Feind.

Aber so war Claus Peymann nicht.

Die Zeitung und er blieben in Kontakt. Wir sprachen miteinander, wir tauschten uns aus – über Theater, über Politik, über Gesellschaft. Wir waren unterschiedlicher Meinung, fast immer. Aber wir sprachen. Peymann war eine Institution. Wir auch. Wir mussten und wollten miteinander umgehen. Auf jedem Level.

Der Linke verteidigt das Töten, der Liberale verabscheut es

Eine kluge Redakteurin, Martina Kaden, fand heraus, dass Peymann ein großer Freund des Stierkampfes war. Nicht sehr links. Und auf den ersten Blick auch nicht sehr komplex. Das alte Klischee: Links reden, rechts leben. Kann man kaum besser illustrieren als durch die Zustimmung zum barbarischen Stiereschlachten. Aber Peymanns Text, den er für uns schrieb, war nicht nur archaisch, nicht der Auswurf eines Linken auf Urlaub vom Linkssein – er war authentisch und nachvollziehbar. Deshalb haben wir ihn gedruckt. Seine Meinung.

Doch als ich ihn dann gedruckt las, den Text, in dem stand: „Dass, so paradox das klingt, der Tod erlebbar wird. Und wenn es still wird in der Arena, dann ist dies die Stille des Begreifens: dass der Tod das Archaische, Unausweichliche des Lebens ist.“ konnte ich nicht anders, als zu reagieren. Ich bin Tierfreund, und mir war die Überhöhung des Sterbens um der Theatermacher-Erkenntnis willen zuwider. Ich schrieb eine Erwiderung auf Peymanns Text. Das ist für einen Chefredakteur ungewöhnlich – hier aber konnte ich nicht anders.

Also schrieb ich einen Text, der wiederum so begann: „Lieber Claus Peymann, als Redakteur habe ich mich sehr über Ihren Text gestern in der B.Z. gefreut. Starke Meinungen und mutige Beiträge sind ein Markenzeichen unserer Zeitung und schmücken uns – auch wenn der Inhalt mir in diesem Fall Bauchschmerzen bereitet. Sie lieben den Stierkampf. Ich verachte ihn.“ Und so weiter.

Das war 2011 – da ging so etwas noch. Da konnte man persönliche Meinungen aufschreiben – und dagegenhalten – und umgekehrt. Da war klar, wo man war und konnte sich trotzdem, sagen wir mal, über die Fronten hinweg zuprosten. Es war ein Austausch von Standpunkten, kratzig, aber fair. Es ging nicht um Bekehrung, es ging nicht um Verunglimpfung – es war ein offenes Gefecht coram publico, das sich gefälligst selbst ein Bild machen sollte.

Es war divers, widersprüchlich: Der Linke verteidigt das Töten, der Liberale verabscheut es. Der Liberale will nicht, dass ein neunfacher Mörder ein Chai-Latte-Praktikum macht – der Linke hält es für eine gute Idee.

Unsere auf Zeitungspapier ausgetragenen Rangeleien um Klar und Cojones waren kein Spiel. Sie waren eine Erweiterung der Kampfzone – aber im Rahmen der zivilisierten Auseinandersetzung. Wir waren so anders, und trotzdem konnten wir reden. Es waren bessere Zeiten.

2002 haben wir Peymann den Kulturpreis der B.Z. verliehen – für seine monumentale Theaterarbeit. Es wurde eine lange Nacht. Natürlich wurden wir uns nicht einig. Aber das muss man ja auch nicht.

Ich verneige mich vor Claus Peymann, dem Theatergenie, mit dem ich wenig teilte – aber dann doch das Wichtigste: die Freude, nein, die Notwendigkeit, an einem offenen Diskurs.

Peter Huth ist Global Head of Communications der Axel Springer SE

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