Er war der Größte, Beste, Unerschrockenste. Zumindest hat Claus Peymann das gerne von sich behauptet. Zauber seiner Persönlichkeit: Manche haben ihm das sogar abgenommen. Peymanns Größenwahn ist eines seiner Erfolgsgeheimnisse gewesen, nicht das einzige: Er war ein Regisseur von seltenem Format, vor allem jedoch der dienstälteste Intendant seit Menschengedenken, und der Letzte, der dieses Berufsbild von A bis Z und mit jeder Faser ausfüllte.
Von 1974 an, als er das Stuttgarter Schauspiel übernahm, übte er ununterbrochen das Amt des Theaterleiters aus – in Bochum und Wien und schlussendlich – von 1999 bis 2017 – in Berlin. Und er hat seinen Häusern Ruhm und Ehre und vor allem jede Menge Aufmerksamkeit verschafft, am wenigsten dem Berliner Ensemble – das unter ihm zwar zur am besten ausgelasteten Hauptstadtbühne wurde, die allerdings innerhalb der Branche nicht wirklich ernst genommen wurde.
Die Lehrmeinung: Ja, der alte Peymann, der klebe an seinem Sessel, rede ungemein wolkig von Welttheater und Aufklärung und von politischem Engagement, verkünde prahlerisch, ein „Reißzahn im Hintern der Politiker“ sein zu wollen … Derlei rief amüsiertes Achselzucken hervor, schließlich nicht einmal mehr das. Mit unbestreitbarem Sinn für doppeldeutige Selbstironie pflegte sich Peymann im vorgerückten Alter als eine Art „Striese“ zu bezeichnen. Nicht weil er sich der Schmiere zu bezichtigen beabsichtigte, sondern weil im Ur-Striese in der Tat eine unbändige Liebe zum Theater steckte – und weil auch er nur in Bühnenluft atmen, existieren konnte: Wir werden seinesgleichen nimmer sehen.
Seine „Königsetappe“
Peymann war der unangefochtene Zampano des Stadt- und Staatstheaters, stand für einen Theatertypus, dessen Glanzzeit sich mit ihm dem Ende zuneigte. Die Personalunion von profiliertem Künstler, einem Patriarchen und aufgeklärten Despoten hat wohl ausgedient. Die 13 Jahre an der Wiener Brug wurden, er sagte es selbst, seine „Königsetappe“. Danach kam der lange Epilog zu einer beispiellosen Karriere, deren dramatische Qualitäten er geschickter als jeder andere zu inszenieren wusste. Im theaternärrischen Wien, in Österreich, fand er das ideale Biotop vor: Seine Provokationen fielen auf denkbar fruchtbaren Boden.
In der Regel sorgten nicht Peymanns oder die von ihm als Direktor verantworteten Aufführungen für medialen Aufruhr. Aber wie er sich – insbesondere in Interviews – gerierte, war in den ersten Jahren seiner Wiener Dienstzeit stets für Erregungen pro und contra gut. Mit offensichtlichem Vergnügen pflegte er sein Image des „Piefkes“, des peinlich lauten, besserwisserischen Deutschen, der als Heilsbringer gekommen war, den rückständigen Österreichern auf die Sprünge zu helfen.
Ein in der „Zeit“ veröffentlichtes Gespräch mit André Müller, voll von Arroganz und Invektiven auch gegenüber den alteingesessenen Burgmimen, entfesselte einen Sturm der Entrüstung. Bestärkt hatte ihn darin naturgemäß sein Mentor, der Übertreibungskünstler Thomas Bernhard mit dem notorischen Hang zu Pauschalattacken und zur superlativischen Negation. Dass sich Peymann trotz heftigem Gegenwind zu halten vermochte, war nicht zuletzt das Verdienst der von ihm nach Wien importierten Truppe – an der Spitze Kirsten Dene und Gert Voss. Mit Voss als fulminantem „Richard III.“ schien die Partie, der Kampf um Wien, 1986 fürs erste gewonnen.
„Bernhards Witwe“
Wie weiland Peter Zadek scharte Peymann eine Schauspielerfamilie um sich, darunter keine Geringeren als Ilse Ritter, Martin Schwab, Traugott Buhre und Ignaz Kirchner. Sie begleitete ihn von Stuttgart über Bochum bis an die Donau. Einer seiner Leibbühnenbildner war Karl-Ernst Herrmann, der Peymanns postmodern-elegante Ästhetik wie kein Zweiter optisch prägte. Insbesondere im Fall von Thomas Bernhard glückten diesem Team Modellaufführungen – sei’s „Der Theatermacher“, sei’s die hinreißende Produktion von „Ritter, Dene, Voss“. Nicht völlig zu Unrecht sollte er sich des Öfteren als „Bernhards Witwe“ verspotten. Noch der späte Bernhard-Nachschlag, der virtuose Monolog „Einfach kompliziert“, abermals mit Gert Voss, geriet Peymann 2011 am Wiener Akademietheater (danach am BE) zu mehr als einer nostalgischen Reprise: zur wundersamen Zeitreise in gloriose Vergangenheit.
Eine nicht zu unterschätzende Qualität der meist pedantisch genauen Peymann-Inszenierungen: Der jeweilige Premierentermin bildete nie den Endpunkt – der Arbeitsprozess und der kontinuierliche Feinschliff setzten sich fort. Das schönste Beispiel: Zehn Jahre nach der Salzburger Uraufführung gastierte das Burgtheater 1996 mit „Ritter, Dene, Voss“ in Prag. Dort hatte die tragikomische Farce dann eine solch denkwürdige, auch humane Intensität gewonnen, dass der halbe Saal mit den Tränen kämpfen musste. Unvorstellbar wäre Peymanns Laufbahn ohne seinen Dramaturgen Hermann Beil gewesen, den bedächtigen, gelehrten Denker hinter des Meisters beinahe zirzensischen Auftritten: Die Programmhefte der Ära Peymann nahmen Buchcharakter an, wurden zu begehrten Sammlerstücken.
Der Politskandal schlechthin entzündete sich freilich nicht an den verbalen Ausritten des Intendanten, sondern – wie es sich im Grunde gehört – an einem Werk der Literatur: Thomas Bernhards „Heldenplatz“, die unerbittliche Abrechnung mit Österreichs Nazi-Erbe, wuchs sich in der Probenphase zu einer Schlacht hysterischer Vorurteile und Vorverurteilungen aus. Damals stieg das Duo Bernhard-Peymann in den Rang von alpenrepublikanischen Staatsfeinden erster Klasse auf. Doch die Premiere mit dem Schlussjubel für den bereits moribunden Schriftsteller wurde ein Triumph – auch für Peymann, dem es gelungen war, ein ganzes Land zum Mitspielen in einer bitteren, sich selbst entlarvenden Weltkomödie zu zwingen: Der buchstäbliche Staatsregisseur hatte wieder einmal gesiegt, vermeintlich patriotische Vorkämpfer zu dem reduziert, was sie waren: Statisten.
Vergleichweise und im Rückblick wirkt all der Trubel der Affäre rund um den von ihm unterstützten Spendenaufruf für Gudrun Ensslins Zahnbehandlung, 1977 in Stuttgart, als er als RAF-Sympathisant diffamiert wurde, ziemlich moderat. Obendrein hatte der nach Bochum weiterziehende Claus Peymann die Genugtuung, seinen Hauptgegner, Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Hans Filbinger, dessen Beihilfe zur Mordjustiz des Dritten Reichs Thomas Bernhards sogenannte Komödie von deutscher Seele „Vor dem Ruhestand“ gewidmet ist, alsbald stürzen zu sehen.
Erster Diener der Autoren
Seltsam genug: Der Regisseur Peymann zeigte keine spektakulär neue, eher eine konservative künstlerische Handschrift. Vielleicht hatte er, eine rare Tugend in seiner Zunft, zu viel Respekt vor dem Dichterwort. Es bis in die kleinste Nuance zu verstehen, verständlich zu machen, war sein – oft erfüllter – Ehrgeiz. Bei Zeitgenossen erwies er sich jedenfalls als Erster Diener der Autoren, wenn auch zuweilen nicht unbedingt zu deren Gunsten. Und Klassiker aktualisierte er behutsam, indem er höchstens eine Prise Ironie beimengte, die den Originaltext ins Heute transportierte, den Nachgeborenen nahezubringen versuchte.
In die Theatergeschichte eingegangen ist Peymanns Revitalisierung von Kleists als unspielbar verrufener, zudem historisch belasteter „Hermannsschlacht“ mit dem Traumpaar Dene/Voss, 1982 in Bochum. Peymanns Beitrag zur deutschen, zur europäischen Kulturgeschichte hatte jedoch schon erheblich früher stattgefunden: Seine Uraufführung von Peter Handkes dramatischem Debüt „Publikumsbeschimpfung“, ein veritables Happening im Frankfurter Theater am Turm, markierte 1966 tatsächlich eine Zeitenwende: Hier kündigte sich neben einer bis dato unbekannten, spielerisch aggressiven, sprachkritischen Bühnenpraxis die Studentenrevolte der 68er-Generation an.
Jetzt ist der Selbstdarsteller des deutschsprachigen Theaterbezirks und Deutschlands bedeutendster Prinzipal, der Theatermacher im Wortsinn im Alter von 88 Jahren in Berlin gestorben. Adieu, Claus Peymann – und: Zum Abschied „Küss’ die Hand“, Herr Direktor!
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