Jürgen Mayer H steht in seiner Retrospektive im Deutschen Designmuseum und sieht gut aus. Es ist Montagmorgen in Berlin-Charlottenburg, die Sonne brennt, und die Obdachlosen unter den S-Bahnbögen haben ihre Decken zur Seite gerollt. Mayer H war am Wochenende Radfahren in Kopenhagen, was sein gesunder Teint im perfekt sitzenden, blütenweißen Hemd bezeugt. Im Oktober wird er 60, was man ihm nicht glaubt.

Das Museum war mal eine Spielhalle, das gedrungen-dynamisch angelegte Innenleben erinnert noch daran. Heute breiten sich dort Modelle, Fotos und Renderings aus – digitalfluide Gebäude und knallbunt-spacige Interieurs. Mayer H blickt zufrieden auf 30 Jahre Werkgeschichte, die Architektur ist und Skulptur zugleich, Science-Fiction und Design. Fantasiegebilde, die meist gebaut wurden und tatsächlich funktionieren. Sein zwanzigköpfiges Berliner Büro gehört zu den gefragtesten weltweit.

Eine Villa vor den Toren Moskaus, Liegestühle auf dem Times Square, ein Heim für obdachlose Kinder in Berlin – Mayer H hat so ziemlich alles in seine organisch-virtuelle Formensprache gegossen. Am berühmtesten: die ineinander verschlungenen Sonnenschirmbauten Metropol Parasol in Sevilla, das größte Holzgebäude der Welt. Eine Zeit lang war Mayer H Deutschlands Mann in Georgien. Dort errichtete er Autobahnraststätten, einen Grenzübergang, eine Polizeistation und zwei Flughäfen in Form futuristischer Schwebestrukturen. Der damalige Präsident Saakaschwili wollte damit sein Land in die Zukunft führen. Das ging dann – wegen der Russen – leider schief.

Zuletzt hat Mayer H, dessen „H“ von seinem zweiten Vornamen Hermann stammt, einen Flughafen für das dänische Sonderborg entworfen und einen Skyscraper für Seoul, der aussieht wie ein überlanger Joystick mit begrünten Lüftungsschlitzen. Schlechte Zeiten für Architektur, wegen Rezession, Klimakrise, Weltuntergang? Nicht bei Mayer H: „Wir waren im Ausland bisher viel aktiver als hier, auch wenn sich das gerade ändert“ – was womöglich daran liegt, dass man anderswo gewagte Formen gut findet, während in Deutschland Funktionalität und irgendeine Ampel regiert, die meistens auf Rot steht.

In den vergangenen Wochen war Mayer H in Korea, Kolumbien und Köln, in Prag, Bukarest und Lyon. Die Venedig-Biennale hat er abgesagt: „Wir haben gerade zu viele aktuelle, spannende Projekte. Vielleicht sind wir nächstes Jahr wieder dabei, wie schon seit 30 Jahren.“ Das Deutsche Designmuseum oder vielmehr: Dessen Direktor, der Gründer, Autor und Regalentwickler Rafael Horzon, hatte also Glück, dass Mayer H extra für ihn seine Wohnung und sein Studio ausräumte. Dort lagerte all das, was nun schön auf großen Tischen und an Wänden inszeniert ist. Bei der Eröffnung musste alles zwischen Ku’Damm und Kantstraße wegen Überfüllung – auch dank freien Schnapsausschanks – kilometerweit gesperrt werden, also fast. Denn Mayer H’s positive Ausstrahlung ist so ansteckend, dass die gesamte, derzeit von einiger Miesepetrigkeit geplagte Kunst- und Architekturszene kam und auftankte.

„Ich blicke mit meiner Arbeit in eine Zukunft, die neugierig macht und nicht von Angst definiert ist“, sagt der Architekt, dessen zügiger, dezent davonschwäbelnder Sprache man gerne zuhört. „Dass die Ausstellung Placeships heißt, ist auch ein Bezug zu der teils futuristischen Anmutung Berlins. Hier gibt es Gebäude wie das Internationale Kongresszentrum ICC, das im September für einige Tage wieder öffnen soll – eine völlig überholte Ästhetik, die aber heute wieder Sinn ergibt. Dieser Moment zwischen Vergangenheit und Zukunft beschäftigt mich.“

Mayer H fragt: Wie verändert Architektur den Blick, unsere emotionale Lesart? Unter Architektur versteht er jede Intervention, vom Hocker bis zum Hochhaus, weswegen das neongelbe, in sich verdrehte Ding auf dem Tisch beides sein könnte. Er habe mit dem, was er tue, keinen Ewigkeitsanspruch, sagt Mayer H Die Ausstellung sieht er als „Darstellung einer Suche, ein Sich-Vorantasten durch die Grenzen unserer Zeit. Es geht darum, eine Architektur für den jetzigen Wissensstand, unsere heutigen Technologien, unser aktuelles soziales Gefüge zu entwickeln.“

Und nein, zeitlos sei das nicht. Das sei auch gar nicht seine Absicht, denn was ist schon zeitlos? Selbst die Moderne mit rechten Winkeln spricht ja die Sprache ihrer Ära. Aber Beige! Das sei die Farbe unserer Zeit. „Es gibt sogar Berechnungen des kosmischen Lichtspektrums, was sich von Rot nach Blau abkühlt, laut derer wir uns jetzt in der beigen Phase befinden.“

Man muss nur an Stadtfassaden denken, an Rentnerlook, Safari-Outfits, Uniformen, teure Interieurs, Taxis und Caffè Latte. „Beige hinterfragt niemand, Beige ist einfach gegeben. Es ist eine Farbe, die man sich nicht aussucht, die schon da ist. Bei jeder anderen Farbe wird man gefragt, warum ist das Gelb oder Rot?“ Das Thema hat Mayer H schon an der Columbia und in Princeton behandelt, auch in Harvard hat er bereits gelehrt. Im September wird er im ICC mit einem Beitrag zum Thema Cosmic Latte an einer Konferenz teilnehmen.

Dann ist da das Berliner Humboldt Forum. Berlins größter Zankapfel könnte beiger nicht sein, ein Symbol der Unentschlossenheit und Biederkeit, womit die Stadtschlosskopie nun Unter den Linden steht wie eine preußische Kaffeesahnetorte. Doch in die gestanzte Fassade wird sich bald ein Pfeil bohren, ein Störelement, wie Mayer H sagt. Gerade hat er den Kunst-am-Bau-Wettbewerb gewonnen – was zeigt, dass er zwischen den Disziplinen schlichtweg nicht unterscheidet und sich auch als Künstler versteht.

Pfeil im Berliner Stadtschloss

Am Humboldt Forum also wird ab Anfang 2026 sein sogenannter Südpfeil einerseits auf die ethnologische Sammlung verweisen, deren Artefakte vor allem aus dem „Globalen Süden“ stammen. Andererseits wurden Pfeil und Bogen auch in Europa verwendet, etwa in der Steinzeit. Die Vermutung, dass hier postkolonial indoktrinierte Kämpfer einen Angriff starten, greift also zu kurz. Mit Störchen aber kommt man weiter: Von ihnen wusste man nämlich lange nicht, dass sie im Winter nach Afrika fliegen. „Das wurde erst klar, als sie mit Pfeilen im Körper zurückkamen“, sagt Mayer H. Die Pfeile wurden untersucht, was viel über Migrationsrouten von Zugvögeln erzählte.

Diese Verweisvielfalt spiegelt sich auch in Mayer H’s organisch-hybrider Architektur. Wie eigentlich seine Formen entstehen? Und was all die gerahmten, dicht mit Mustern bedruckten Innenseiten von Briefumschlägen bedeuten, die in der Ausstellung hängen? „Datensicherungsmuster sind der Ausgangspunkt meiner Arbeit“, sagt Mayer H. Vielleicht, weil man von optisch überwältigender Architektur keine Komplexität erwartet, überrascht diese Antwort viele.

„Visuelle Codes dienen seit Beginn des 20. Jahrhunderts dem Schutz von Informationen in Druckmedien. Sie bilden die Schwelle zwischen privat und öffentlich, innen und außen. Buchstaben und Zahlen überlagern einander, sodass sie Tarnmuster ergeben.“ Dieses Prinzip sei im Informationszeitalter per Kodierungssoftware auf elektronische Medien übertragen worden. „Transformiert ins Dreidimensionale bilden solche Codes aus Zahlen und Buchstaben einen Raum an der Schwelle von Innen und Außen, Diskretion und Transparenz.“

Tatsächlich kann man mit diesem Wissen auf Mayer H’s Entwürfe schauen, als wohne ihnen ein Muster inne, das von Digitalität und Diskretion erzählt. Muss man aber nicht. Es reicht, ungläubig auf bunte Bilder ganzer Wohnungen im gesteigerten Verner-Panton-Stil zu schauen, mit welligen Einbauschränken, verdrehten Sitzmöbeln und fließenden Esstischen mitten in Berlin, die aussehen wie Star Trek auf Ketamin.

Eine davon sei gerade als teuerste Wohnung Deutschlands auf dem Markt, sagt Mayer H, und er sagt das mit einer unschlagbaren Mischung aus Stolz und schwäbischer Bescheidenheit.

So spektakulär sein Werk aussieht: Der interdisziplinäre, kunst- und kulturkritische Kontext, mit dem J.Mayer.H – so der offizielle Name des Büros – arbeitet, macht klar, dass hier nicht bloß eine KI befragt wird, wie Menschen sich die Architektur der Zukunft vorstellen. Mayer H’s Bildsprache saß schon Ende der 90er, als man gerade erst begriff, was das Internet war. Dass er schon den deutschen Pavillon in Venedig bespielt hat und seine Arbeiten in der Sammlung des Museum of Modern Art in New York zu finden sind, sind da nur Nebenschauplätze.

Warum er Architektur und nicht Kunst studiert habe, was sein ursprünglicher Wunsch war? „Meine Eltern haben mir mal ein Buch geschenkt, darin war ein Bild von Erich Mendelsohns rundlich geformtem Warenhaus Schocken in Stuttgart, das nach dem Krieg unter Protesten abgerissen wurde. Die Faszination dafür habe ich nie verloren.“

Und tatsächlich: Betrachtet man Mayer H’s Gebilde jenseits ihrer sich aufdrängenden digitalen Anmutung, denkt man vielleicht an die Architekten der „Gläsernen Kette“, die sich 1919 in einem regen Briefwechsel über Zukunftsvisionen ergossen. Während Mendelsohn seinen u-bootartigen Einsteinturm bei Potsdam baute, skizzierten Bruno Taut, Hermann Finsterlin, Hans Scharoun und andere Ufos mit Gucklöchern auf dem Weg in ein neues Zeitalter, in dem Gebäude schweben und sich drehen.

Nichts davon wurde je gebaut. Doch der Optimismus der Brieffreunde war erstaunlich. Vielleicht wussten sie, dass eines Tages jemand kommen würde, der ähnlich denkt. Jürgen Mayer H hat recht: Zeitlosigkeit ist eine Illusion.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke