Das Zitat ist echt. Julia Klöckner sagt es in einem Interview mit dem Regionalteil der Deutschen Presse-Agentur. In dem Gespräch geht es um Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, "Je sui Charlie" und Pegida. Irgendwann sagt sie folgende Sätze:
"Ich mag natürlich auch keinen, der sich mit einem Hitlergruß ablichten lässt und Anführer einer Pegida-Demonstration ist. Dennoch ist das Recht auf freie Meinungsäußerung, auch wenn einem die Inhalte nicht gefallen, grundlegend für unsere freie Gesellschaft."
Das Interview ist mittlerweile zehn Jahre alt. "Hitlergrüße" waren damals genauso verboten wie heute und nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt. Dass Julia Klöckner die Verteidigung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit ausgerechnet in ein solches Umfeld verlegt, ist bemerkenswert.
Wie ein solches Zitat die in Deutschland übliche Autorisierung von Interviews überstanden hat, weiß ich beim besten Willen nicht. Im Anschluss an das Interview erklären CDU-Politiker, dass Julia Klöckner bösartig falsch verstanden worden sei. Natürlich. Was denn auch sonst.
Julia Klöckner fühlt sich immer wieder missverstanden
Im Vorfeld zur vergangenen Bundestagswahl schreibt Klöckner auf Instagram einen Beitrag, der viel Aufmerksamkeit erregt:
"Für das, was Ihr wollt, müsst Ihr nicht die AfD wählen. Dafür gibt es eine demokratische Alternative: die CDU."
Man kann diesen Satz so verstehen, dass die CDU dieselben politischen Positionen vertritt wie die AfD. Und weil zwischen AfD und CDU kaum Unterschiede bestehen, kann man genauso gut die CDU wählen. Das zumindest wäre eine Interpretation, die einem deutschen Muttersprachler ins Auge springt. Aber auch hier will Klöckner wieder missverstanden worden sein.
Ein Jahr zuvor behauptet Julia Klöckner, dass die Zahnarztkosten der Asylbewerber mit 690 Millionen Euro zu Buche schlügen. Die Zahl stellt sich schnell als falsch heraus. Die 690 Millionen Euro beziehen sich auf die gesamte ärztliche Versorgung aller Flüchtlinge in Deutschland. Klöckner aber bleibt bei ihrer Falschaussage. Sie legt sogar nach und wiederholt die Unwahrheit. Ihr Tweet ist noch immer online.
Als Friedrich Merz kurz nach seinem Amtsantritt in einem Interview mit der ZDF-Moderatorin Dunja Hayali über die Migrationspolitik der Bundesregierung spricht, teilt Klöckner, mittlerweile Bundestagspräsidentin, einen Beitrag, in dem es heißt, der Bundeskanzler mache Dunja Hayali "fertig".
Missverständnisse zu Hitlergruß und AfD. Falsche Aussagen über Flüchtlinge. Politiker, die Journalisten "fertigmachen". Alles das erinnert in besonderem Maße an Donald Trump, den Meister der Scham-, Ruch- und Ahnungslosigkeit, der die konservative Partei in den USA derart fest im Würgegriff hält, dass alle Lebensenergie aus dieser einst so stolzen politischen Organisation entweicht. Trump ist ein Medienphänomen, das es mit offenen Lügen und klug platzierten Skandalen zum Präsidenten der USA gebracht hat. Legt man die Karriere von Julia Klöckner daneben, könnte man meinen, sie habe sich Trump zum Vorbild genommen.
Im Jahr 2016 veröffentlicht die SPD in Rheinland-Pfalz eine dreiseitige Zitatesammlung, in der sie Julia Klöckners mutmaßliche Unwahrheiten in der Bildungspolitik auflistet und widerlegt. Vier Jahre später behauptet Julia Klöckner, mittlerweile aufgestiegen zur Bundeslandwirtschaftsministerin, die FDP habe im Haushaltsausschuss einen Antrag gestellt, um 4,2 Milliarden Euro an Zuschüssen für die Landwirtschaftliche Sozialkasse zu streichen. Als der FDP-Politiker Gero Hocker dies öffentlich als Unwahrheit bezeichnet und von Julia Klöckner Belege für ihre Behauptung einfordert, wartet er vergebens.
Dass politische Wettbewerber eine Konkurrentin nicht unbedingt mit Samthandschuhen anfassen, gehört zur üblichen politischen Auseinandersetzung. Dass aber Journalisten in ihrer Arbeit einer Spitzenpolitikerin derart viele Falschbehauptungen und Lügen nachweisen, ist ungewöhnlich. Im "Tagesspiegel" erscheint ein Beitrag des Kollegen Sebastian Leber, der mit den Worten "Die Fake News der Julia Klöckner: Unehrlichkeit als roter Faden einer Karriere" überschrieben ist. Ein Artikel des "Taz"-Autors Jost Maurin trägt den Titel "Falsche Behauptung der Agrarministerin: Ist Klöckner die deutsche Trump?".
Ein Werbeclip für Nestlé, deren Zulieferern Kinder- und Zwangsarbeit vorgeworfen wird
Unvergessen bleibt Klöckners Video mit einem Vertreter von "Nestlé" aus dem Jahr 2019, das auf den offiziellen Kanälen des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft verbreitet wird und aussieht, wie man sich einen Werbefilm für den Lebensmittelkonzern vorstellt. Exakt zwei Tage (!) nach Klöckners Werbevideo veröffentlicht die "Washington Post" einen langen Artikel über Kinderarbeit und Zwangsarbeit auf Farmen, von denen Nestlé und andere Unternehmen ihre Zutaten beziehen.
Im Jahr 2020 behauptet die Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner mitten in der Corona-Pandemie, dass ein rumänischer Erntehelfer in Deutschland nicht an Covid-19, sondern an einem Herzinfarkt gestorben sei. Das zuständige Gesundheitsamt widerspricht Klöckner schnell und vehement. Zur gleichen Zeit kämpft Klöckner, einem Bericht der "Taz" zufolge, für die Einfuhr von Pestiziden, die im Verdacht stehen, Krebs zu verursachen oder das menschliche Erbgut zu schädigen. Den Recherchen der "Taz" widerspricht Klöckner erst, später liefert ihr Ministerium "ergänzende Fakten" nach und muss daraufhin zugeben, dass die "ursprünglich getroffene Aussage (von Klöckner, Anm. d. Red.) so nicht zutreffend ist".
Missverständnisse, Falschbehauptungen, Unwahrheiten. Dazu eine politische Position, die man mit dem Wort "Rechtsdrall" einigermaßen passend beschreibt.
Diese Julia Klöckner ist nun Bundestagspräsidentin und damit die Nummer zwei in der deutschen Bundesrepublik. Sie ist es, die in der Verantwortung steht, die parlamentarische Ordnung zu bewahren. Dafür zu sorgen, dass alle Parteien ihren legislativen Rechten und Pflichten nachkommen können.
Das funktioniert bislang eher mittelprächtig.
Zum CSD keine Regenbogenflagge am Reichstag – für Klöckner Neutralität
In einem ihrer ersten Interviews nach ihrer Wahl richtet sie sich mit einem Appell an die beiden Kirchen und kritisiert allen Ernstes, dass diese sich auch zu tagesaktuellen Themen äußern. Es dauert nicht lange, bis ihre eigenen Parteifreunde widersprechen. Armin Laschet und Dennis Radtke kritisieren Julia Klöckner ungewohnt deutlich und stellen sich auf die Seite der Kirchen. Mehrere Unionsmitglieder, mit denen ich spreche, zeigen sich besorgt, ob Klöckner ihrer Aufgabe gewachsen ist.
Kaum einen Begriff betont Klöckner in ihrer aktuellen Rolle häufiger als das Wort "Neutralität". Als sie während einer Personalversammlung der Bundestagsverwaltung erklärt, warum die Mitarbeiter nicht mehr in ihrer offiziellen Funktion am CSD teilnehmen dürfen, begründet sie das mit der Neutralität. Auch dass zum Jahrestag des CSD am Reichstag keine Regenbogenflagge mehr gehisst wird, hat für Klöckner mit der staatlichen Neutralität zu tun. Die Personalversammlung findet im Fraktionssaal der CDU/CSU statt, dort hängt ein christliches Kreuz. Als ein Mitarbeiter Klöckner fragt, ob das Kreuz nicht auch gegen die Neutralität verstoße, antwortet Klöckner einem Bericht des "Spiegel" zufolge:
Ohne das Kreuz gäbe es die offene Gesellschaft, wie wir sie heute in Deutschland haben, nicht
Es ist beinahe lustig, wie Julia Klöckner erklärt, dass sich die Kirchen aus dem Geschäft der Politik herauszuhalten haben, während sie sich als Vertreterin der Politik die Symbole des Christentums aneignen will.
Davon abgesehen ist das, was Klöckner sagt, hanebüchen falsch. Es waren die christlichen Kirchen, die die offene Gesellschaft bekämpft haben, wo sie nur konnten. Die mit Kreuzzügen, Inquisition, Hexenverbrennung und Religionskriegen Menschen verfemt und vernichtet haben. Die die Vordenker der Aufklärung verleumdet und die als "Deutsche Christen" dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet haben. Die den Judenhass des Mittelalters in den Antisemitismus der Neuzeit übersetzt und die Freiheitsrechte der Frauen, Schwulen und Kinder jahrzehntelang behindert haben.
Als eine Abgeordnete der Linken mit einem T-Shirt erscheint, auf dem das Wort "Palestine" aufgedruckt ist, wird sie von Julia Klöckner des Plenarsaals verwiesen. Ein AfD-Abgeordneter, der bei der konstituierenden Sitzung des Bundestags die blaue Kornblume, das geheime Erkennungszeichen der NSDAP, am Revers trägt, wird hingegen nicht verwarnt.
Für Parteifreunde gelten offenbar andere Regeln
Neutralität. Klöckner führt das Wort in Gesprächen mit ihrer Verwaltung, in der Auseinandersetzung mit den Abgeordneten und in besonders rigider Auslegung der Kleiderordnung in ihrem Haus. Im Umgang mit ihrem Parteifreund Jens Spahn, der sich gerade inmitten seines Maskenskandals befindet, scheint diese Neutralität allerdings in den Hintergrund zu geraten. Eine parlamentarische Anfrage der Grünen an die Bundesregierung wollte die Bundestagsverwaltung unter Julia Klöckner erst nicht weiterleiten, eine Sondersitzung des Haushaltsausschusses zum Maskenskandal wollte Julia Klöckner bis zuletzt nicht genehmigen.
Auch dem würdelosen Versuch der CDU, den Bericht einer Sonderermittlerin zu Jens Spahns Maskenaffäre zu schwärzen und der Öffentlichkeit zu entziehen, stellt sich Klöckner bis heute nicht entgegen. Stattdessen sieht man sie auf ihrem Instagram-Account Arm in Arm mit dem Lebensgefährten von Jens Spahn. Die Bildunterschrift lautet "Lieblings-Präsidentin".
Donald Trump hätte all das kaum besser hingekriegt.
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