Die Islamische Republik Iran ist ein selbst erklärter Gottesstaat. Doch nirgendwo im Nahen Osten ist die Zivilbevölkerung so säkular wie im Iran. Ein Gespräch mit Katajun Amirpur, Islamwissenschaftlerin und Iran-Kennerin.

SRF: Katajun Amirpur, im Iran bezeichnen sich nur gerade 30 Prozent der Menschen als Muslime, Musliminnen. Warum wenden sich die Menschen vom Islam ab?

Katajun Amirpur: Die Menschen haben schlicht genug von der Unterdrückung und Entrechtung im Namen des Islams. Durch den real existierenden Islamismus hat die Islamische Republik den Menschen die Religion quasi ausgetrieben. Derzeit unterstützen nur noch 20 Prozent der Bevölkerung das Regime ideologisch.

Sind diese Zahlen belastbar?

Ja, das sind unter anderem Zahlen, die vom Regime selbst erhoben wurden. Das Regime wollte sie unter Verschluss halten, allerdings wurden die Umfragen geleakt. Sie zeigen deutlich: Die Kluft zwischen Regime und Zivilbevölkerung ist riesig.

Trotzdem: Das Regime hält sich an der Macht, setzt seine Ideologie des Gottesstaates durch – mit Gewalt.

Die Gefängnisse im Iran sind voll mit politischen Gefangenen. Mit Journalistinnen, Aktivistinnen, Oppositionellen. Aber auch mit Menschen, die nur geringfügig gegen die Regeln im Gottesstaat verstossen haben.

Die jungen Menschen im Iran wollen Demokratie, was dann mit dem Islam passiert, ist ihnen wurscht.

Das Regime verfügt über einen umfassenden Repressionsapparat: Todesurteile, systematische Inhaftierungen, gezielte Einschüchterung. Der Staat setzt auf brutale Abschreckung. Mindestens genauso eindrucksvoll ist der anhaltende zivile Widerstand.

Gerade die jungen Menschen im Iran wollen Demokratie, was dann mit dem Islam passiert, ist ihnen wurscht.

Der selbst erklärte Gottesstaat hat längst den Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Trotzdem ist der Alltag der Menschen geprägt von der islamischen Theokratie. Was bedeutet das für die Menschen im Iran?

Viele Menschen führen eine Art Doppelleben. Das Leben in den vier Wände sieht völlig anders aus, als das islamische Regime das propagiert. Der Iran hat eine lebendige Subkultur. Filme, Musik, Kunst, die im Untergrund – und teilweise unter Lebensgefahr – produziert werden.

Die Alkohol- und Drogenexzesse sind auch Ausdruck der Perspektivlosigkeit.

Privat gibt es keine Geschlechtertrennung, Männer und Frauen feiern und tanzen gemeinsam. Jene, die es sich leisten können, flüchten in den Exzess. Viele westliche Touristen erzählen, dass sie noch nie so wilde Partys wie im Iran erlebt hätten.

Laut Zahlen der UN leben 15 bis 20 Prozent aller Süchtigen weltweit im Iran. Das spricht Bände.

Ein Schuss Heroin ist im Iran günstiger als ein Liter Milch. Die Alkohol- und Drogenexzesse sind auch Ausdruck der Perspektivlosigkeit – ein Weg, vor einer hoffnungslosen und furchtbaren Realität zu flüchten.

Der Graben zwischen politisch-religiöser Führung und der Zivilgesellschaft ist in vielerlei Hinsicht enorm. Ist die Islamische Republik Iran der grösste Treiber der Säkularisierung?

Es ist letztlich die logische Konsequenz. Zum Vergleich: Noch nie wurde in Amerika so viel gesoffen wie zur Zeit der Prohibition. Das lässt sich übertragen auf das System der Islamischen Republik, die von sich behauptet, hier werde der Wille Gottes durchgesetzt und die dies dann mit grosser Gewalt durchsetzt. Das ist der sicherste Weg, dass sich die Menschen vom Glauben abwenden.

Der iranische Philosoph Abdolkarim Soroush sagte einmal: «Der Islam war im Volk so tief verwurzelt, dass nur eine islamische Revolution diese Wurzel ausreissen konnte».

Das Gespräch führte Anna Jungen.

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