Trotz strahlender Sommerhitze: Der gestrige Tag brachte trübe Nachrichten für die Literaturwelt. Ein Berufungsgericht in Algier hat die im März verhängte fünfjährige Haftstrafe für den algerisch-französischen Schriftsteller Boualem Sansal bestätigt. Ein Freispruch war nicht wirklich erwartet, aber insgeheim erhofft worden. Sansal ist über 80 Jahre alt und krebskrank. Im November 2024 war Sansal in Algier verhaftet und im Frühjahr dieses Jahres verurteilt worden. Ihm wird vonseiten des algerischen Regimes vorgeworfen, die Souveränität Algeriens infrage gestellt zu haben. Sansal hatte sich in einem Interview mit einem französischen Medium zum Westsahara-Konflikt geäußert.

Sowohl Sansal als auch die algerische Staatsanwaltschaft hatten gegen das Urteil Berufung eingelegt, wobei die Staatsanwaltschaft weiterhin 10 Jahre Haft gefordert hatte – was in Sansals Situation einem Todesurteil gleichgekommen wäre.

Der PEN Berlin und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels kritisierten die Entscheidung in Algier. Thea Dorn, PEN-Berlin-Sprecherin, sagte: „Einen Schriftsteller für ein Interview zu verurteilen, in dem er weder gegen den algerischen Staat hetzt noch anderweitig Hass verbreitet, ist ein politischer Skandal.“ Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteherin des Börsenvereins, teilte mit: „Die algerische Justiz hat das Strafmaß von fünf Jahren Haft gegen Friedenspreisträger Boualem Sansal bestätigt. Dies ist ein inakzeptabler Angriff auf die Meinungsfreiheit und Menschenrechte.“

Solidarität mit Boualem Sansal

Sansal ist ein renommierter und international bekannter Schriftsteller. 2011 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Sein Schicksal bewegt viele Menschen aus der Literaturszene, nicht zufällig hat es seit der Festsetzung Sansals sowohl in Frankreich als auch in Deutschland mehrere Solidaritätsveranstaltungen gegeben. Nun abermals in Leipzig, wo auf Betreiben von Thorsten Ahrend, dem Leiter des Leipziger Literaturhauses, und Alfonso de Toro, einem Leipziger Literaturprofessor und Freund Sansals, bereits vergangenen November ein erster Abend in Solidarität mit Sansal veranstaltet wurde.

Für die aktuell anberaumte Veranstaltung im Leipziger Alten Rathaus hatte man neben dem Oberbürgermeister der Stadt Leipzig, Burkhard Jung, rund ein Dutzend prominente Unterstützer-Stimmen des Kulturbetriebs aufgeboten. Darunter Schriftsteller wie Ingo Schulze, Durs Grünbein, Daniel Kehlmann, Martina Hefter, Charlotte Gneus, Navid Kermani – und David Grossman aus Israel. Des Weiteren Übersetzer, Professoren und Sansals Verleger, Antoine Gallimard in Frankreich und Katharina Meyer in Deutschland. Auch wenn die meisten Mitwirkenden urlaubs-, arbeits- oder hitzebedingt nur eine Videobotschaft übermitteln konnten, entfaltete der Abend das, was jede Zivilgesellschaft braucht: Öffentlichkeit und Gemeinschaft. Der Bestsellerautor Daniel Kehlmann brachte es auf den Punkt: „Wir dürfen nicht vergessen, dass er gefangen ist. Und wir müssen auch unsere Politiker daran erinnern, sich für Boualem Sansal einzusetzen.“

Ingo Schulze, Schriftsteller und Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die in Darmstadt alljährlich den Georg-Büchner-Preis vergibt, sagte: „Sansal hat nur das getan, was die Aufgabe aller Schriftsteller und Intellektuellen ist: Er hat die eigenen Leute kritisiert.“ Der Schriftsteller und Büchnerpreisträger Durs Grünbein sandte eine Botschaft aus Rom, er sehe sich beim Fall Sansal an ungute Zeiten der Geiseldiplomatie erinnert, wie sie auch Russland schon seit Jahren selbstbewusst praktiziere.

Der Sänger Sebastian Krumbiegel betonte in seiner Videobotschaft, es sei leider mal wieder Zeit, das „kleine Ständchen auf eine alte Dame, die wir alle kennen“, anzustimmen. Anschließend intonierte er sein 2019 veröffentlichtes Lied „Die Demokratie ist weiblich“. Die Autorin Martina Hefter, die 2024 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, las aus Sansals Buch „Postlagernd Algier. Zorniger und hoffnungsvoller Brief an meine Landsleute“.

Sansals französischer Verleger Antoine Gallimard ließ wissen, wie wichtig es sei, nicht zu schweigen: „Jetzt sind es schon mehr als sechs Monate, dass unser Freund wegen nicht mehr als einer Meinungsäußerung inhaftiert ist.“ Die deutsche Verlegerin von Boualem Sansal, Katharina Meyer vom Merlin Verlag, konnte derweil berichten, dass der von Gallimard bereitgestellte neue Anwalt inzwischen auch ein Visum erhalten und Sansal erstmals sprechen konnte. Dem ersten Anwalt war die Einreise verweigert worden. Meyer sagte: „Ich bin wahnsinnig enttäuscht, dass dieses Urteil bestätigt wurde. Aber es ist zugleich auch nicht das Allerschlimmste passiert. Die von der Staatsanwaltschaft geforderten zehn Jahre Haft sind es nicht geworden.“

Begnadigung ist noch möglich

Ähnlich äußert sich auch der Leipziger Literaturprofessor Alfonso de Toro, ein Freund Sansals, der seit der Inhaftierung Sansals wie alle anderen leider keinen Kontakt zu dem Schriftsteller aufnehmen konnte, gegenüber WELT: „Meine Einschätzung ist, dass sich mit diesen bestätigten fünf Jahren mehrere Möglichkeiten bieten. Der algerische Präsident kann Sansal qua Amtsbefugnis begnadigen. Er kann das Strafmaß senken, also die Strafe abmildern. Er kann sie aber auch ganz aufheben.“ Ein solches Vorgehen sei gesichtswahrend möglich.

Das Verhältnis zwischen Algerien und Frankreich beziehungsweise den Präsidenten beider Länder gilt als belastet, nicht nur wegen der kolonialen Vergangenheit und des Algerienkriegs. Sansal sei ein „Pfandstück“, glaubt De Toro. „Ich vermute, dass der algerische Präsident den Schriftsteller als Verhandlungsmasse braucht.“ Und weiter: „Sansal ist schon lange ein Stachel im Fleisch der algerischen Regierungen. Von seinem ersten Roman an, ‚Schwur der Barbaren‘, hat er geschrieben, wie korrupt diese Regierungen sind. Er hat beschrieben, wie die Bevölkerung unterdrückt wird, wie die Frauen unterdrückt werden und wie die Kumpanei mit den Islamisten funktioniert. Nicht umsonst ist sein Werk in Algerien verboten.“

Schon unmittelbar nach der Verhaftung Sansals im vergangenen Herbst hatte de Toro, gemeinsam mit dem Leipziger Literaturhaus unter der Leitung von Thorsten Arend, auch einen Aufruf gestartet, der die Freilassung Sansals fordert – und inzwischen 27.000 Unterschriften eingesammelt hat. Gerade weil es die diplomatischen Kanäle nicht ersetzt, aber befeuert, ist solches Engagement vorbildlich.

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