Der Tag war doof, die Woche stressig? Unser Kolumnist Micky Beisenherz kennt seit 30 Jahren ein Mittel, davon runterzukommen. Es liegt auf einem Gefängnisrasen.

Eine weitere Angriffswelle. Nils kommt über rechts, ich sprinte mit nach vorne und schiebe mich zwischen die Abwehrreihen des Gegners. Der Ball kommt flach, direkt in meinen Lauf. Perfekte Ballannahme und eine Körpertäuschung, die nicht nur den Gegner verwundert zurücklässt. Wie habe ich das denn gemacht? Nur noch schießen und …

Vielleicht war ich gedanklich noch zu beschäftigt mit dem gelungenen Dribbling. Womöglich lag es an dem hubbeligen Rasen. Jedenfalls stolperte ich vor dem Abschluss so jämmerlich, dass ich plötzlich vor dem Tor lag. Allgemeine Erheiterung, wo Sekunden vorher noch respektvolles Raunen war.

Micky Beisenherz kickte auf dem "Knacki"

Willkommen auf dem "Knacki", dem Rasenplatz der JVA Castrop-Rauxel, auf dem wir regelmäßig spielen. Hier sind der Malte, der Onur, der Vagesh, die Norma. Martin hat seinen Sohn Luis dabei, der 15 ist und dem wir dabei zusehen können, wie er von Woche zu Woche besser wird. Die Truppe sieht so bunt aus wie eine Benetton-Reklame. Boris Palmer hätte gefragt: "Welche Gesellschaft soll das abbilden?" Auf jeden Fall eine, die funktioniert. Und das schon lange.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Vor 30 Jahren kletterten wir heimlich über Zäune, um auf den satten Rasen des Gefängnisses zu kommen. Wir waren also die einzigen, die in den Knast eingebrochen waren. Wir spielten FIFA 1996 auf der Playstation und danach in Shirts von – nein, wir waren Marcelo Salas, George Weah und Ronaldo (der echte). Da Mikes Vater ein paar gut gehende Videotheken hatte, kam er öfters im Originaltrikot und nicht in einem der Fakes aus Lloret de Mar, die die meisten von uns trugen. Aziz, der beste Fußballer von uns, schwärmte von Marokkos Volkshelden Mustafa Hadji, während ich Éric Cantona sein wollte. In London hatte ich mir sogar für 30 Pfund eine VHS-Kassette mit seinen besten Szenen gekauft. An Youtube, geschweige denn Tiktok war damals nicht zu denken. Wir hatten Nike-Spots bei MTV, die uns komplett anzündeten. Wir standen kurz vor dem Abi oder dem Abschluss der Lehre, das Leben war leicht, und der Fußball brachte uns zusammen.

Dieser unglaublich tolle Geruch von Rasen

Es braucht bis heute nicht viel: einen Ball, ein Dutzend Leute und diesen unglaublich tollen Geruch von Rasen. Von den Gründungsvätern der Truppe sind nur noch Andree und ich dabei, und wir sind mittlerweile sogar legal auf dem Platz, so richtig mit Schlüsselgewalt. Wir sind immer noch genauso kindlich begeistert, so leidenschaftlich, so lustig. Eine klassenlose Gesellschaft, in der nur ein Blaumann beim Umziehen vorm Spiel etwas über den beruflichen Background verrät.

Umstrittene EM-Szene Cucurella über Handspiel: "Ich hätte auch protestiert"

Wichtig ist aufm Platz. Mag ein Tag noch so nervig, eine Woche noch so stressig gewesen sein – in diesen 90 Minuten zählt allein das, was du auf dem Feld machst. Jede gelungene Flanke, jeden feinen Pass, eine Grätsche, ein Tor nehme ich selig abends mit ins Bett. Nirgendwo sonst denke ich nur an das, was ich da zwischen den Linien gerade tue. Denke ich überhaupt? Hier vergesse ich mich.

Ich bin 48 und ausm Ruhrpott. Aber jetzt gerade, in diesem Moment bin ich Thierry Henry. Mein Kumpel Onur mit seinen Haaren ist bei allen hier nur Cucurella. Er brachte es zwei Tage nach dem legendären Handspiel im EM-Viertelfinale fertig, auf dem Knacki ein exakt gleiches Vergehen zu fabrizieren. Es wurde gelacht und gestaunt. So wie bei meinem Stolperer vor dem Tor. Nein, ich bin weder Thierry Henry noch Éric Cantona, aber hier, mit all meinen Leuten auf dem Rasenplatz neben der Emscher bin ich: glücklich.

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