Die Dokumentation "One to One" zeigt, wie John Lennon in New York zum politischen Künstler wurde.

Für Pop-Archäologen mag das nicht neu sein. Wer aber nicht mit jedem Staubkorn der Beatles vertraut ist, schaut zweimal hin: John Lennon kaute Kaugummi, während er auf der Bühne sang. Jedenfalls im August 1972, als er in New York – drei Jahre nach der Trennung der Beatles – mit Yoko Ono sein erstes Solokonzert spielte und da souverän den Klassiker "Come together …" kau, kau, "right now …" kau, kau, "over me", vorträgt. Ebenso bei "Instant Karma", kau, kau, "well, we all shine on", kau, "like the moon and the stars and the sun."

Man rätselt dabei kurz, ob Lennon einfach nur lässig ist oder im Gegenteil: hoch nervös. Die Umstände des Jahres ’72, die Stadt New York und neben sich nicht mehr Paul, George und Ringo, sondern andere Musiker und seine Frau Yoko Ono, lassen den Schluss zu: wohl beides.

Die 100 Minuten des Dokumentarfilms "One to One" zeigen eher einen erstaunlich gelassenen John Lennon, den man – 53 Jahre später – so noch nie wahrgenommen hat. Was an der Kunst des schottischen Regisseurs Kevin Macdonald ("Whitney" und "High and Low – John Galliano") liegt, der dafür etliche Archivaufnahmen, Filmschnipsel, den Konzert- mitschnitt aus New York und viele von Lennon selbst aufgenommene Telefongespräche zu einer vitalen Collage geformt hat, die Lennon beinahe wiederauferstehen lässt.

John Lennon zog es in die USA

Die filmische Dichte entsteht auch durch einen kleinen Trick Macdonalds, der das erste kleine Apartment in der Bank Street, in das Lennon und Ono Ende 1971 zogen, exakt nachbauen ließ. Sein Film kehrt zwischen all den rasanten Archiv-Ausschnitten und Nachrichten aus der Zeit immer wieder dorthin zurück, als sei die Wohnung ein Ruhepol gewesen. Sie war auch der Ort, an dem der Fernseher stand, von dem aus die Welt auf Lennon und Ono einprasselte.

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Tagelang hätten sie damals im Bett gelegen und nur auf den Bildschirm gestarrt, sagt Lennon. Um das nachzuempfinden, zappt auch "One to One" durch damalige TV-Nachrichten, Talkshows, Werbung, die Serie "Die Waltons" und immer wieder durch Bilder vom Vietnamkrieg. Was dem eigentlichen Thema Lennon/Ono einen intensiven zeitgeschichtlichen Hintergrund gibt, ohne den man vieles nicht verstehen würde.

Denn John Lennon, damals 31, war nach dem Ende der Beatles nicht aus England in die USA geflohen, sondern voller Absicht dorthin gezogen. Er, der sicher politischste der Beatles, hatte in England mit der Bandgeschichte abgeschlossen – im Song "God" hieß es 1970: "Ich glaube nicht an die Beatles, ich glaube nur an mich. Yoko und mich."

1971 kamen seine Lieder "Power to the People" und "Imagine" heraus, die zu Hymnen wurden. Die gesellschaftliche und politische Bewegung, die Lennon und Ono dafür suchten, sahen sie nicht in England, sondern in den USA – bei Musikern wie Bob Dylan und Joan Baez sowie radikalen Aktivisten wie Jack Rubin und A. J. Weberman.

Der nachdenkliche Hippie

Und wie "One to One" dieses Zusammentreffen des eher nachdenklichen Lennon mit der Antikriegsbewegung zeigt, ist hochinteressant. Denn nicht nur die Proteste waren erhitzt, auch die Zeit selbst war es. US-Präsident Richard Nixon ließ Vietnam bombardieren, gleichzeitig wurde im Sommer ins Hauptquartier der Demokratischen Partei eingebrochen (Watergate), und ebenso gleichzeitig durchsuchte in New York der Schriftsteller A. J. Weberman die Mülltonnen von Bob Dylan, um zu beweisen, dass der Sänger längst ein reicher Sohn des Kapitalismus sei.

In TV-Talkshows wurde weniger diskutiert, sondern agitiert und protestiert. Und mittendrin: John Lennon, der aber anders wirkte als seine Umgebung. Vor jeder TV-Kamera und in mitgeschnittenen Telefonaten ausgeruht, souverän, meinungsfest, ohne jeden schrillen oder lauten Ton. Manchmal sogar diplomatisch, wenn er versucht, Dylan von einem Solidaritätskonzert für eine "Free the People"-Tour zu überzeugen.

Wo schon John Lennon und Abraham Lincoln tranken

McSorley's Old Ale House In New York gibt es viele legendäre Bars. Für einen opulenten Bildband hat das Fotografen-Ehepaar Karla und James Murray einige von ihnen festgehalten. Etwa das "McSorley's Old Ale House": Es ist die älteste, durchgehend unter diesem Namen betriebene Kneipe der Stadt. Wer in diesem legendären "irischen Saloon" ein Bier ordert, kann das im Bewusstsein tun, dass hier auch schon Abraham Lincoln und John Lennon an einem kühlen Blonden nippten.  © James T. & Karla S. Murray
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Auch wenn es kein Thema des Films ist, schleicht sich beim Zuschauen das Heute an. USA: ein autokratischer Präsident und eine demokratische Opposition, die verzweifelt nach Form, Kraft – und auch einem Sound – sucht. "Tu deine politische Botschaft mit etwas Honig zusammen. Das ist es, was wir machen. Wir versuchen, die Apathie der jungen Menschen zu überwinden", sagte Lennon, der aber schon ahnte, dass der hippiehafte Glaube, die Welt ändern zu können, zum Scheitern verurteilt war. Vor einem Konzertpublikum sagte er: "Okay, Flower-Power hat nicht funktioniert. Und was nun? Wir fangen von vorn an."

Dabei sieht man ihm mit großer Wehmut zu – und denkt an den 8. Dezember 1980, als John Lennon in New York auf der Straße erschossen wurde.

Seitdem fehlt er. Wo sind bloß die Lennons von heute?

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