Wo gehörst du hin? Oder auf gut steirisch: WOU G’HEASTN DU HI? Die österreichische Autorin Natascha Gangl gewinnt den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis. Sie hatte einen Text vorgetragen, der mit steirischer Mundart durchsetzt war und auf kluge Weise fragt, was eigentlich unsere Erinnerungen prägt und inwieweit Sprache dabei eine Rolle spielt. Zumal ganz am Rand des deutschen Sprachraums, in der Südoststeiermark, wo im Zweifel auch schon Slawisch gesprochen wird und der Kampf um regionale und nationale Identität seit jeher in mehreren Sprachen ausgetragen wird. Im Mittelpunkt des Textes steht ein mysteriöser Gedenkstein („Da Sta“), von dem nicht klar ist, an wen oder was er gedenkt.
Gangl darf als verdiente Preisträgerin gelten: Sie sei eine Autorin, die jenseits aller Moden und Trends ein wichtiges Thema der Literatur verhandele, sagte die Jurorin Brigitte Schwens-Harrant in ihrer Laudatio: In welcher Sprache leben wir? Auch akustisch. Das Gehörte sei nämlich oft entscheidender als das Gesagte. Wohl wahr – fast eine Lebensweisheit. Gangl sagte, sie schreibe schon lange nach Gehör, das Hören sei Teil ihres Arbeitens.
Der Mythos Klagenfurt
Ja, beim berühmtesten Casting-Wettbewerb der deutschsprachigen Literaturbranche wirkt vieles aus der Zeit gefallen. Aber es tut gut, dass es dieses Format gibt. Kein Geringerer als Marcel Reich-Reinicki hat den Literaturwettbewerb 1977 ins Leben gerufen, zum Gedenken an Ingeborg Bachmann, die 1926 in Klagenfurt am Wörthersee geboren wurde und 1973 an den Folgen eines Brandunfalls in Rom starb.
Wer nach Klagenfurt eingeladen wird, kann sich einer gewissen Mythenbildung sicher sein – ganz egal, ob er hier nur auftritt, so wie Rainald Goetz mit Rasierklinge und blutender Stirn anno 1983. Oder ob er gewinnt, wie Uwe Tellkamp anno 2004.
Sieben Juroren schicken jeweils zwei Kandidaten ins Rennen, die ihre literarischen Texte während drei Tagen in 14 Lesungen vortragen und sich anschließend der Beurteilung durch Experten stellen müssen. Zur amtierenden Jury unter dem Vorsitz des Grazer Germanisten Klaus Kastberger gehört auch Mara Delius, Leiterin des WELT-Feuilletons und Herausgeberin der „Literarischen Welt“.
Die Lesungen und dazugehörigen Jurygespräche kann man vor Ort verfolgen, alternativ auch im Fernsehsender 3sat oder Livestream. Man muss das Performative und Öffentliche dieses Formats immer wieder betonen und feiern, denn was Literaturkritik ist und kann und sein will, lässt sich nirgends besser studieren als hier. Am besten sind natürlich die Widersprüche. Sie zeigen, wie unterschiedlich ein- und derselbe Text gelesen werden kann, so etwa in diesem Jahr „Daughter Issues“ von Nora Osiagobare: „Das ist ein Siegertext und das ist einem sofort klar, wenn man ihn gehört hat“ (Juror Klaus Kastberger) versus „Für mich hat der Text etwas von Malen nach Zahlen“ (Juror Philipp Tingler). Zur Klagenfurt-Folklore gehören auch Frotzeleien in eigener Sache wie „Mittlerweile hat jeder von uns einen Text benannt, in dem jedes Wort stimmt“ (Kastberger über Standardsituationen des literaturkritischen Gesprächs).
Zu den Bachmannpreis-Standards gehört weiter, dass neben dem Hauptpreis (25.000 Euro) weitere Auszeichnungen vergeben werden, benannt nach den Sponsoren: der Deutschlandfunk-Preis (12.500 Euro) ging an Boris Schumatsky. Er las am Samstag, ganz zuletzt in der ausgelosten Lesereihenfolge, doch schon beim Zuhören war klar, dass er unter den ersten sein würde. Es geht um einen im Westen lebenden Sohn, der an seine erblindende Mutter in Moskau denkt. In „Kindheitsbenzin“ stellt sich ein Ich-Erzähler vor, der Sohn würde sie besuchen und in Putins Reich zurückkehren. „Meine Mutter spricht eine Sprache, die Angst vor ihren eigenen Wörtern hat.“
Die weiteren Auszeichnungen
Den Kelag-Preis (10.000 Euro) gewann Nora Osiagobare, die mit ihrer Geschichte über eine Reality-TV-Macherin, die ein Format erfunden hat, in der schlechte Väter eine Million Euro erhalten, wenn den Kontakt zur eigenen Tochter für immer abbrechen, wobei der Clou der Geschichte die privat umgekehrte Situation der Hauptfigur ist.
Den 3sat-Preis (7500 Euro) bekam Almut Tina Schmidt, die in „Fast eine Geschichte“ von einer Hausgemeinschaft erzählt, in der man sich gegenseitig im Treppenhaus begegnet und seinen Nachbarn Fetzen von Lebensgeschichten ablauscht, aus denen man jederzeit eigene Geschichten weiterspinnen kann.
Nicht von der Jury bestimmt werden zwei weitere Preise. Erstens der Publikumspreis (dotiert mit 6000 Euro) – kein Zufall, dass Natascha Gangl mit ihrem überzeugend im steirischen Dialekt performten Text auch ihn gewann. Das zweimonatige Schreibstipendium am Ossiacher See (3000 Euro) ging an die von Mara Delius eingeladene Autorin Tara Meister.
Der Ingeborg-Bachmann-Preis, der jedes Jahr Ende Juni viele Fans für drei Tage nach Klagenfurt am Wörthersee lockt, fand „heuer“ zum 49. Mal statt. Nächstes Jahr ist also die 50. Ausgabe dieser „Tage der deutschsprachigen Literatur“, wie das Format ganz offiziell und sperrig heißt.
Übrigens hat Klagenfurt seit wenigen Tagen auch ein Bachmann-Museum. In der Henselstraße 26, wo die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann ihre Kindheit und Jugend verbrachte, kann auf zwei Etagen eine Ausstellung zum Leben und Werk besichtigt werden. Zur Eröffnung war auch Heinz Bachmann anwesend, der 1939 geborene, 13 Jahre jüngere Bruder der Schriftstellerin, der vor zwei Jahren das Buch „Ingeborg Bachmann, meine Schwester“ veröffentlicht hatte.
Zum Auftakt des Literaturwettbewerbs kam Heinz Bachmann auch auf Reich-Ranicki zu sprechen. Der Literaturpapst habe viel für dieses Format getan. Aber er habe Ingeborg Bachmann auch mal eine „gefallene Lyrikerin“ genannt. Das habe seine Schwester sehr gekränkt. Die in ungelenker Rhetorik vorgetragene Anekdote passt in unsere Zeit, in denen Mikroaggressionen und psychische Verletzungen genauso viel Aufmerksamkeit bekommen, wie jeder biografische Krümel, der auf Homestory-Silbertablett serviert wird.
Mal sehen, was der 100. Bachmann-Geburtstag und 50. Bachmannpreis im kommenden Jahr bereithalten. Gut möglich, dass dann eine erste Bachmann-Fanfiction von sich reden macht.
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