Nur wenige Tage nach der Wiedervereinigung der K-Pop-Band BTS sorgt eine weitere südkoreanische Sensation für weltweiten Nervenkitzel: die dritte und vorerst letzte Staffel „Squid Game“.

Die Netflix-Serie über ein lukratives Spiel mit mehreren Runden, bei dem verlierende Teilnehmer nicht nur ausscheiden, sondern getötet werden, besticht als kluge Kapitalismussatire und brutaler Survival-Splatter-Thriller zugleich. Staffel 2 endete mitten in einem aussichtslosen Putsch-Versuch rund um den freiwillig wieder ins Spiel zurückgekehrten Gewinner der ersten Staffel, Seong Gi-hun (Lee Jung-jae). Genau dort setzen die neuen Folgen nun ein, an einem Punkt also, an dem etwa ein Drittel der einst 456 Mitspieler noch am Leben sind.

Ihren Reiz bezieht auch die neue Staffel aus dem Gerechtigkeit suggerierenden, ausgeklügelten Regelwerk der Kinderspiele vor pink-grüner Plastik-Kulisse, die in Kombination mit dem regelmäßig darüber fließenden Blut eine ansprechend konstrastreich-moderne Kaugummi-Ästhetik erzeugt. Alles, was jenseits der sadistischen Spiele geschieht – die Abstimmungen, Streitereien und Sabotage-Aktionen –, wirkt zwar nicht direkt langweilig. Viel eher fühlt man sich von ihnen in das Kind zurückversetzt, das man einst neben seinen Eltern auf dem Sofa beim „Wetten, dass...?“-Schauen war, als man die Promi-Gespräche und Musik-Einlagen geduldig ertrug, insgeheim aber nur auf die Wetten hinfieberte. Vielleicht, fragt man sich ertappt, ist es genau das, was die Serien-Macher erreichen wollen, nämlich dass man noch stärker in die Rolle der dekadenten VIPs hinabrutscht, die innerhalb der Serie als Zuschauer des Spektakels fungieren. Diese lechzen vor ihren Bildschirmen danach, dass endlich jemand ruft: „Lasset die Spiele beginnen!“

So wartet „Squid Game 3“ gleich zu Beginn mit einem der perfidesten Kinderspiele auf, das sich Drehbuchautor und Regisseur Hwang Dong-hyuk je ausgedacht hat: Wer ein rotes Los zieht, erhält ein Messer, wer ein blaues zieht, einen Schlüssel. Die Blauen gewinnen, wenn sie es bis zum Spielende schaffen, in einem Labyrinth aus Gängen und abgeschlossenen Räumen zu überleben. Die Roten gehen als Sieger hervor, wenn sie jeweils mindestens einen Blauen umbringen. Vor Spielbeginn eröffnet sich zudem für die Teilnehmer die einmalige Chance, das Team zu wechseln. Die strategische Frage, ob es sich leichter gestaltet, vor Mördern zu fliehen oder aber selbst zum Mörder zu werden, ist zugleich eine moralische: Schon Sokrates behauptete, dass es besser sei, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun.

Philosophische Gedankenexperimente

Für solch gewiefte Gedankenexperimente nimmt man gerne in Kauf, dass die Spieler bedeutungsschwangere Sätze sagen wie „Du bist nicht wie die anderen“, „Du solltest jetzt besser aufgeben“ oder „Du bist zu weit gegangen. Viel zu weit“. Die voyeuristischen VIPs brillieren hingegen mit lässigen Meta-Beobachtungen wie: „Das ist fast wie eine dieser Familien-Reality-Shows. Die Spieler-Auswahl ist Ihnen wirklich ausgezeichnet gelungen.“ Dabei kann es schonmal passieren, dass man als Fernsehzuschauer angesichts eines sich ankündigendes Dilemmas „interessant“ murmelt, und wenige Sekunden später einer der VIPs genau dieses Wort ausspricht – um dem Zuschauer seinen eigenen Zynismus vorzuhalten, aus der bequemen Couch-Position heraus über Leben und Tod zu urteilen, als wäre alles nur ein Spiel.

„Interessant“ wird es zum Beispiel, wenn eine Mutter sich entscheiden muss, entweder ihren Sohn umzubringen, sich selbst zu opfern, oder eine Schwangere zu töten. Noch „interessanter“ wird es, wenn der moralisch über alle Zweifel erhabene Held vor der Wahl steht, einen bösartigen Widersacher in den Abgrund zu stürzen oder aber zuzulassen, dass dieser viele andere Spieler ins Verderben führt. Das aus der Moralphilosophie bekannte Trolly-Experiment lässt grüßen.

Mehr als um Glück oder Geschick geht es in den drei neuen Spielen um Strategie, Argumente und demokratische Abstimmungen. Jedes der drei Kinderspiele – die da wären: Verstecken, Seilhüpfen, Teams-Wählen –, findet in schwindelerregender Höhe statt. Wer fällt, fällt tief. Das aus der Dramentheorie stammende Konzept der „Fallhöhe“ sowie das in Drehbuchseminaren beschworene Prinzip „Fun and Games“ erhalten hier eine völlig neue Bedeutung.

Was „Squid Game“ noch zeigt, in den neuen Folgen mehr denn je: Die brutalste Gewalt liegt nicht in der Maßlosigkeit, sondern in der Begrenzung. Schon das Post-Holocaust-Drama „Sophies Entscheidung“ erkannte, dass es nichts Schlimmeres gibt als das makabre Wissen, angeblich für sein Schicksal alleinverantwortlich zu sein. Denn man hat es ja gewählt. „Es war deine Entscheidung“ gilt in „Squid Game“ somit auch als Totschlagargument gegen jede selbstmitleidige Klage.

Stimmt ja auch: Nach jeder Runde haben die Mitspieler die Chance, sich mittels einer demokratischen Abstimmung gegen die Fortsetzung der Spiele zu entscheiden – dabei würden sie, anders als in Staffel 1, nicht einmal leer ausgehen, sondern sich das verbleibende Preisgeld gerecht untereinander aufteilen. Doch Gier und Größenwahn siegen (Armut und Verschuldung prägen die südkoreanische Gesellschaft); und so fällt die Entscheidung jedes Mal aufs Neue für eine Fortsetzung des Massakers aus. Das Perfide am Kapitalismus, so lautet die in „Squid Game“ bis zum blutigen Ende durchgespielte These, ist, dass er uns suggeriert, wir nähmen freiwillig an ihm teil, seien selbst verantwortlich für unser Handeln, und hätten immer eine Wahl.

Zynische Gewaltverherrlichung?

Wenn man von den halbherzigen Sabotage-Versuchen innerhalb der Wärter-Riege sowie den überflüssigen Anstrengungen der Polizei qua Suchboot absieht, hat man es hier mit einer der stärksten Staffeln zu tun. Anders als bei einem „Whodunit“ stellt sich nicht die Frage, wer der Mörder ist, sondern wer (als nächstes) zum Mörder wird, und nicht, wer das Opfer ist, sondern wer (als nächstes) zum Opfer wird.

Ist die Bingeability des massenhaften Sterbens zynisch? Bestätigen die revolutionsskeptischen Untertöne der Serie den Status quo? Wirbt die ästhetische Inszenierung für Trends wie Gamification, Infantilisierung und Spieltheorie, statt sie bloßzustellen? Ist „Squid Game“ ein Argument für die Abschaffung der Bundesjugendspiele? Über all diese Fragen würde man nach der finalen Staffel am liebsten demokratisch abstimmen lassen. Bis dahin heißt es: Auf die Plätze, fertig, los.

Die sechs Folgen der dritten Staffel „Squid Game“ laufen ab dem 27. Juni auf Netflix.

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