Antiquariate sind Orte aus einer alten Welt. Während der Zeitgeist durch die Gassen braust und die Moden über die Lande fegen, fristen die kleinen Läden in den Städten ihr Dasein im Windschatten der Hochhäuser und Shopping-Paläste. Das Antiquariat Willbrand im Kölner Stadtteil Sülz nahe dem Uni-Viertel war einer dieser Orte. Im Frühjahr 2024 gelangte sein Inhaber Klaus Willbrand in rasender Geschwindigkeit zu Berühmtheit.

Mithilfe von Daria Razumovych, einer Stammkundin, die über die Jahre auch zu einer Freundin Willbrands wurde, begann der damals 82-Jährige, Videos aufzunehmen, in denen er über Literatur sprach, und stellte diese auf TikTok und Instagram. Nach nur wenigen Tagen hatten seine Videoclips fünfstellige Abrufzahlen. Mittlerweile folgen dem Instagram-Account „buchantiquariat_willbrand“ rund 150.000 Menschen, auf TikTok sind es noch einmal gut 50.000.

Später Ruhm

Viele Literaturfans, darunter vor allem jüngere Menschen, sahen dabei zu, wie Willbrand umgeben von alten Büchern am Schreibtisch seines Ladens saß und über Franz Kafka, Robert Musil oder Ingeborg Bachmann sprach. Mit seinem ruhigen, leicht in sich gekehrten und bisweilen etwas schnoddrigen Ton wirkte der Charakterkopf wie eine Antithese zum hektischen Gestammel herkömmlicher Influencer.

Willbrand traf einen Nerv. Mit den Followern kamen die Zeitungen, erst die regionalen, dann die überregionalen Feuilletons, und berichteten über den Antiquar im Internet. Doch so spät der Ruhm in Willbrands Leben trat, so kurz dauerte er an. Nachdem er im Oktober vergangenen Jahres bereits mehrere Wochen im Krankenhaus verbringen musste und sein Instagram-Kanal in dieser Zeit pausierte, erschienen gegen Jahresende zunächst wieder Videos, allerdings mit einem sichtbar gezeichneten Mann. Nach einem weiteren Rückschlag reichte die Kraft dann nicht mehr: Klaus Willbrand starb am 29. Januar diesen Jahres.

In der Kneipe mit Rolf-Dieter Brinkmann

Nun erscheint ein Buch über den Antiquar, der selbst einmal sagte, er habe im Laufe seines Lebens rund 6000 Bücher gelesen. Daria Razumovych, der Kopf hinter Willbrands Social-Media-Auftritten, hat die Texte zu einem Buch zusammengestellt und stellenweise durch eigene ergänzt. „Einfach Literatur - Eine Einladung“ ist eine Mischung aus autobiografischen Erzählungen und der Geschichte hinter dem Social-Media-Projekt, vor allem aber eine Sammlung an Kurzporträts von Autoren, die Willbrand schätzte und zum Teil auch persönlich kannte.

In der Einleitung erzählt die 33-jährige Germanistin und gelernte Buchlektorin Razumovych, wie sie zunächst als Studentin in Köln jahrelang an dem kleinen Antiquariat mit dem Rad vorbeifuhr, ohne davon Notiz zu nehmen, und erst Jahre später Willbrand kennen und schätzen lernte. Aus Kundschaft wurde Freundschaft, und Razumovych beleuchtet auch private Momente und die teils prekären Umstände, in denen Antiquare wie Willbrand in Zeiten des veränderten Medienkonsums leben. So schildert sie etwa, wie Willbrand vor seinem Social-Media-Ruhm oft stundenlang auf Kundschaft wartend in seinem Geschäft saß, und wenn er Glück hatte und jemand ein paar Euro daließ, mit dem Geld direkt dringend benötige Einkäufe machen ging.

In seinen autobiografischen Texten, die Willbrand noch vor seinem Tod fertigstellen konnte, blickt er auf sein Leben und Lesen zurück. Zunächst als fünfjähriger Bub, der wegen einer Asthma-Erkrankung ins Krankenhaus musste und dort seine Begeisterung für Bücher entdeckte, später auf seine beruflichen Lehrjahre in der Kölner Universitätsbuchhandlung von Joseph Caspar Witsch, der später zum Mitgründer des Verlags Kiepenheuer & Witsch wurde.

Das Herzstück von „Einfach Literatur“ sind jedoch die bündigen Autorenporträts, die sich – wie der Titel bereits erahnen lässt – in erster Linie an das jüngere Lesepublikum richten, das den Antiquar aus den sozialen Netzwerken kennt. Aus diesen Texten, die teilweise mit Zitaten Willbrands aus seinen Videos schließen, sticht ein längerer Beitrag über Rolf Dieter Brinkmann heraus. In dem Text gewährt Willbrand einen Einblick in die Freundschaft zum damals aufstrebenden Dichter Brinkmann, die bis zu dessen frühem Tod 1975 anhielt. Willbrand erzählt darin auch von Brinkmanns teils rüden Eigenarten im persönlichen Umgang und seinem „Hang zu Kaschemmen“ und schäbigen Kneipen, in denen er regelmäßig rumpöbelte.

Trotz der stellenweise etwas trockenen Autorenporträts ist es Razumovych gelungen, die Quintessenz des Social-Media-Phänomens in die Buchform zu übertragen: Literatur zu vermitteln und dabei zugleich eine Geschichte über den Vermittler zu erzählen. Damit ist „Einfach Literatur“ auch eine würdige Hommage an den Menschen und Leser Klaus Willbrand.

„Man lebt als Antiquar in einer irgendwie doch eher fremderen Welt“, sagt Willbrand in einem seiner Videos auf Instagram. Statt sich zurückzuziehen, ist er in diese Welt eingetaucht, um deren Bewohnern Botschaften aus der Literatur zu schicken. Sein später Erfolg macht Hoffnung.

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