Von draußen, vom strahlenden Sommertag nach drinnen in die fahlblau glimmende Raumnacht ist wie jäher Verlust der vertrauten Lebenssicherheit. Man ist eine Weile blind, wenn man das ungetüme „Schaulager“, die Kunsthalle der privaten Laurenz-Stiftung am Stadtrand von Basel betritt, tastet sich vor, reibt sich die Augen, bis sie einem langsam aufgehen, und der Blick frei wird. Hunderte, vielleicht tausende von Leuchtröhren an den Decken, die das offene, ins Turmhohe ragende Entree über mehrere Stockwerke staffeln und dabei riesenhafte Raumsegmente überwölben.
Man ist sehr allein dort. Achtzig Schritt in die eine Richtung, über hundert in die andere. Auf dem gigantischen Spielfeld versperrt einem niemand den Weg. Alle Bewegung scheint wie unter Bann erstorben. Und die Leute sitzen auf den weißen Kisten, die ringsum die Wände säumen, und warten auf das Spektakel, das doch kommen muss. Weil die Kunst nie ohne Spektakel sein kann, und sich immer das Ungesehene, das Unerhörte, das nie Erlebte ereignen muss.
„Bass“ im Schaulager: ein fast sakrales Erlebnis
Aber nichts geschieht. Erst sehr allmählich entdeckt man, dass sich die Farbtemperatur fast unmerklich verändert hat. Wer lang genug bleibt, wird durch den ganzen Farbenkreis von einer Nuance zur nächsten geführt. Und was eine Zeit lang schwarzer Farbstreifen an der Galerie war, wird unversehens zur grünen Wiese und versinkt wieder im ursprünglichen Dunkel. Es ist ein bisschen, wie wenn man der untergehenden Sonne zusieht und sich vom Spiel der Himmelsfarben nicht trennen kann.
Das Leuchtereignis, das der britische Filmregisseur und Videokünstler Steve McQueen eingerichtet hat, heißt „Bass“. Weil die tiefen, die ganz tiefen Töne das Leuchten begleiten. Bassgitarren-Akkorde, die die weiträumig verteilten Lautsprecher ins Monumentale verstärken. Es ist bei jeder Klangfolge, als gerate darüber der Körper in Schwingung. Ein dumpfer Sound, den man wie anbrandende Wellen erlebt. Kann man etwas dafür, dass es einem in der dröhnenden Stille wie in einer gotischen Kathedrale zumute ist, wenn die Orgel einsetzt und die Sonne durch die blauroten Glasfenster bricht?
Und kann es überraschen, dass der Künstler heftig widerspricht? Die sakrale Anmutung ist es jedenfalls nicht, die er zu inszenieren hofft. Wer sein finsteres, Oscar-prämiertes Filmepos „12 Years a Slave“ in Erinnerung hat, der wird es gerne zulassen, wenn Steve McQueen seine überwältigende Licht- und Tonsinfonie in Basel als Menetekel beschreibt und den abstrakten Raum mit Geschichte und Geschichten füllt.
Dass er bei „Bass“ an den Laderaum eines ehemaligen Sklavenschiffs denkt, verbietet ja keine weiter wuchernden postkolonialen Assoziationen. Zumal wir das cineastische, performative und installative Werk des Künstlers als überaus abwechslungsreich erfahren haben. Sein munterer Beitrag zur Biennale in Venedig im Jahr 2009 versammelte all die Kuriositäten, die der Regisseur außerhalb der Biennale-Saison in den Giardini filmen ließ.
Streunende Hunde mit rollfähigem Schwanz. Einen Wurm, eine Spinne. Ein schwules Paar. Müll vom vergangenen Herbst. Nebel. Früh gehen die Lampen an. Spät läuten die Glocken das Frühjahr ein. Regen. Und wenn der Regen aufhört, dann ist auch der Film zu Ende, und man ist schon wieder dreißig Minuten älter geworden.
Viel härter indes der fatale Selbstversuch, bei dem Steve McQueen stoisch wie Buster Keaton vor einem Holzhaus Aufstellung bezogen hat und es mit Fassung geschehen lässt, dass gleich die komplette Frontwand vom Keller bis zum Giebel über ihn fallen wird. Weil das Fenster geöffnet ist, und er am vorausberechneten Ort unbeweglich verharrt, saust das schwere Teil links und rechts und vor und hinter ihm vorbei.
Ein Scheitern war bei so viel exakt planender Vernunft wohl ausgeschlossen. Und doch schaut der Kandidat nicht allzu zuversichtlich drein, als ob er doch ein wenig Zweifel am notwendig glücklichen Ausgang des Experiments habe, und auch das Strammstehen keine wirkliche Garantie bieten könnte.
Bei anderer Gelegenheit hat der Künstler den Amsterdamer Vondelpark kurz vor Sonnenaufgang in ein derart magisches Blaulicht getaucht, dass den frühen Vögeln ihr Morgenruf peinlich wurde. Und womöglich ist es gerade die Doppelspurigkeit, dieses Schwanken zwischen Erzählung und gegenstandsloser Sinnlichkeit, die dem Werk seine eindringliche Eigenart gibt. Vor zwölf Jahren lud das „Schaulager“ zu einer Art Steve-McQueen-Retrospektive, die eine veritable Kinoveranstaltung wurde. Jetzt wird gar nichts veranstaltet, nichts vorgeführt.
Alle Handlung, alles Mitgedachte erstickt im Pathos des immensen Raumerlebnisses, und man ist wunderbar allein mit dem unmerklichen Lichtwechsel und dem dunklen Basso continuo – erfüllt von einem unüberwindlichen Gefühl der Zufriedenheit. Vielleicht, ahnt man, ist ja gerade das die große Kunst der Kunst, dass sie mit schierer Erklärungsbedürftigkeit triumphiert.
Und so erscheint einem dann auch die Rückkehr aus der fahlblau glimmenden Raumnacht in den strahlenden Sommertag wie jäher Verlust. Man ist wieder eine Weile blind und taub für die Stadtgeräusche und löst sich draußen nur schwer von den behutsam verwahrten Sensationen drinnen.
„Steve McQueen. Bass“, bis 16. November 2025, Schaulager, Basel
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