Herr Bösch, in den sozialen Medien trifft man immer wieder auf den Hashtag "Stolzmonat". Was ist damit gemeint?
Stolzmonat als Hashtag ist der Versuch, den Pride Month mit einem rechten Narrativ zu kapern. Das rückt den Nationalstolz in den Vordergrund und meint: "Wir brauchen keine queeren Flaggen. Wir brauchen nur eine Flagge – und das ist die deutsche." Der Stolzmonat ist 2023 als Phänomen auf Social Media, besonders auf Tiktok, schnell groß geworden, unter anderem, weil sich namhafte AfD-Politiker daran beteiligt hatten. Das passiert seither immer im Juni, dem Pride Month. Es gab seit Beginn auch stets Versuche aus der queeren Community, dem Hass etwas entgegenzusetzen. Der queere Aktivist Fabian Grischkat beispielsweise hat sich 2024 "Stolzmonat" als Wortmarke sichern lassen und Pride-Month-Motive auf Kleidung gedruckt. Der Gewinn wurde an die queere Bundesstiftung Magnus Hirschfeld gespendet.
Zur Person
Der Politik- und Medienwissenschaftler Marcus Bösch ist Experte für rechten Populismus auf TikTok. Er forscht, berät und publiziert zu Propaganda und digitalen Kommunikationsstrategien. Derzeit promoviert Bösch an der Universität Münster und veröffentlicht den Newsletter "Understanding TikTok". Außerdem lehrt er an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und an der Hochschule Hannover.
Wie hat sich das Phänomen entwickelt?
Rechte Akteure versuchen auch diesen Monat wieder, den Pride Month auf sozialen Medien zu kapern. Zum einen trenden alte Videos wieder, es sind aber auch eine ganze Reihe neuer queerfeindlicher Inhalte dazugekommen, auch von altbekannten Akteuren. Tiktok hat inzwischen aber die Recherchemöglichkeiten massiv eingeschränkt. 2023 konnte man sich noch die gesamten Views eines Hashtags beziehungsweise der Videos dieses Hashtags anschauen und diese Daten für die Forschung verwenden. Inzwischen kann man nur noch die Postanzahl sehen, wenn man nach dem Hashtag sucht. Das erschwert die Auswertung.
Wieso lassen sich Jugendliche in den sozialen Medien von rechter Ideologie ködern?
Man kann es ködern nennen. Vielleicht muss man aber auch schlicht konstatieren, dass sie das Angebot von rechten oder rechtsextremen Akteuren attraktiv finden. Denn hier wird mit einer sehr einfachen Propaganda von "Die da oben sind korrupt, wir aber nicht" agiert. Da können einige gut andocken, die sich denken: "Ich bin auch dagegen." Außerdem findet eine Normalisierung statt: Junge Nutzer sind in einem Umfeld aufgewachsen, in dem die AfD immer schon im Bundestag war. Das heißt, es ist eigentlich "normal", dass rechte und rechtsextreme Positionen im Bundestag vertreten sind. Wenn es eine Normalisierung von Positionen gibt, die vorher als teils unsagbar galten, trägt das auch zu einer Radikalisierung bei.
Oft verbunden mit einer direkten Ansprache. Wird damit strategisch ein junges Publikum an die Hand genommen?
Ja, und hier unterscheidet sich häufig die politische Kommunikation der Parteien. Der AfD-Politiker Maximilian Krah hat während des Europawahlkampfs im Vergleich zu anderen Spitzenkandidatinnen besonders auffällig gesprochen: "Du bist 14, die da oben" wollen Folgendes von dir, "aber du bist schlau – deswegen kannst du Teil von uns, der AfD, werden". Tradierte Politiker von demokratischen Parteien sind in ihren Ansprachen meist rationaler und viel allgemeiner geblieben.
Wieso fühlen sich junge Menschen, die sich im rechten Spektrum verorten, vom Pride Month so bedroht?
Der Pride Month ist sichtbares Symbol eines wahrgenommenen Weltbildes, das umfassend abgelehnt wird. Egal, ob queere Person, eingewanderte Person, egal ob öffentlich-rechtlicher Rundfunk, grüner Umweltschutz oder Veganismus. In der Abgrenzung bilden sich Feindbilder heraus. All dies wird als Bedrohung durch "die anderen" empfunden. Dahinter steckt auch der Wunsch nach einer Zeit, in der die Welt als vermeintlich "einfacher" wahrgenommen wurde. Die Antwort von rechts auf einen sich wandelnden Zeitgeist lautet: "Wir wollen und brauchen all das nicht."
Was hat der Erfolg von rechten Influencern auf Tiktok mit der Eigenheit der Plattform zu tun? Warum funktionieren diese Inhalte besonders gut?
Aufgrund der algorithmischen Kuratierung. Auf anderen Plattformen musste ich diesen Leuten aktiv folgen, um ihre Inhalte zu sehen. Das hat sich durch die algorithmische "For You Page" von Tiktok aufgelöst. Das heißt, hier wirft mir Tiktok testweise immer mal etwas in den Feed: Wenn ich nur Katzenvideos angucke, kriege ich wahrscheinlich viele Katzenvideos vorgeschlagen, ab und zu mal ein Hundevideo – und dann viele unterhaltsame Inhalte. Durch eine zumindest temporäre Dominanz politisch rechter Inhalte durch flächendeckendes Engagement der AfD und ihres Vorfeldes wanderten aber auch diese Inhalte in die Feeds. Interagiere ich als Nutzer mit diesen, bekomme ich von Tiktok noch mehr ähnliche Inhalte.
Könnte man zur Entradikalisierung von Jugendlichen beitragen, indem man die Plattform reguliert?
Die Plattform muss aktiver bei offensichtlich extremistischen Inhalten werden. Vor allem in der Durchsetzung der eigenen Community-Richtlinien, die sich eigentlich klar gegen Hassrede positionieren. Ein zweiter Akteur, der gefragt ist, ist die Politik. Mit dem Digital Service Act gibt es inzwischen auf europäischer Ebene ein erstes Maßnahmenpaket: Die Kommission untersucht derzeit Tiktok.
Reicht das?
Die Entradikalisierung von Jugendlichen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Eltern und Lehrende müssen miteinander und mit den Kindern und Jugendlichen ins Gespräch kommen und Digitalkompetenz fördern. Das kann nicht nur in der Schule, sondern muss auch zuhause geklärt werden: Dass Videos und Sounds, die auf den ersten Blick harmlos erscheinen, zum Beispiel ein gepfiffener Song von Gigi D’Agostino, Teil eines ideologischen Konstrukts sind. Es lässt sich an vielen Stellen ansetzen. Bei der Plattform, in der Politik, aber eben auch gesamtgesellschaftlich.
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Dennoch kristallisierte sich New York zunehmend als Treffpunkt homosexueller Menschen heraus. Ursache dafür waren unter anderem die zahlreichen, homosexuellen Kriegsveteranen, die nach dem Weltkrieg in die Metropole strömten, um sich hier niederzulassen. Gut 15 Jahre später hatte New York mehr als 40 schwule sowie etwa vier lesbische Bars, die Menschen trauten sich zunehmend – wenn auch nicht in der breiten Öffentlichkeit – zu ihrer Sexualität zu stehen. Im November 1950 wurde dann die erste homosexuelle Organisation der Vereinigten Staaten, die sich offiziell für die Rechte Homosexueller einsetzte, gegründet. 14 Jahre später ging eine Gruppe von etwa zehn homosexuellen Demonstranten erstmals auf die Straßen New Yorks, um für ihre Rechte öffentlich einzustehen – wenn auch mit wenig Erfolg, da Razzien und Hass weiterhin dominierten. © Keystone Pictures USA/ / Picture Alliance
Leider gehen die Folgen rechter Mobilisierung über die Grenzen des Internets hinaus. Stichwort Gigi D’Agostino: Was hat Tiktok mit dem Sylt-Skandal zu tun?
Man muss diese Phänomene als das sehen, was sie sind: Sie finden längst im postdigitalen Bereich statt. Was auf der Plattform stattfindet, passiert schließlich auch im echten Leben. Wenn junge Menschen auf Sylt zu Gigi D’Agostino "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" singen und den Hitlergruß zeigen, wird das auf der Plattform veröffentlicht, erreicht dann wiederum andere User und wird schließlich auf den Schützenfesten dieses Landes nachgeahmt und abermals digital festgehalten. Diese Wechselwirkung verstärkt sich gegenseitig. Hass und Hetze auf der Plattform haben darüber hinaus eben auch ganz konkrete Auswirkungen auf Betroffene im realen Leben.
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