Betritt man die Wiener Wohnung von Konrad Paul Liessmann, eröffnet sich eine Welt der Dinge. „Das Universum der Dinge“ hat der Philosoph eines seiner vielen Bücher genannt, und hier sieht man es. Beim Anblick des Arbeitszimmers mit dem Schreibtisch inmitten riesiger Bücherregale fällt einem das Gemälde „Der Bücherwurm“ von Carl Spitzweg ein: Sogar eine Leiter steht bereit, um nach den Bänden zu greifen, die sich knapp unter der Decke befinden. Durch die Flügeltür geht man ein Zimmer weiter, wo – alles so wohlgeordnet wie in einem Roman von Adalbert Stifter – Schallplatten und CDs stehen.
Man sagt den Philosophen nach, dass sie sich vor der Welt des Dinglichen in die ätherischen Gebilde des Geistigen flüchten. Nicht Liessmann. „Mich interessiert das Lebendige der toten Dinge“, sagt der 72-Jährige. „Dinge haben ihre Geschichte, allein über die Gebrauchsspuren.“ Die Dinge, die ihn seit Kindheitstagen begleiten, sind Bücher und Platten. In einem ärmlichen Nachkriegshaushalt aufgewachsen, brachte ihm seine Mutter, ausgebildete Bibliothekarin, die Welt der Bücher näher, die er beim Lesen lieben lernte. Die Fantasiewelten von Karl May faszinierten ihn ebenso wie die Geschichte vom selbst gewählten Tod des Sokrates in einer populären Einführung in die Philosophie.
Dann kam etwas Neues in die elterliche Wohnung: ein Plattenspieler. Ein ständiges Objekt der Begierde für das Kind, wie er erzählt, und noch für den Erwachsenen. Gerade hat Liessmann beim Residenz-Verlag in der Reihe „Dinge des Lebens“ mit „Der Plattenspieler“ ein Büchlein veröffentlicht, das von der eigenen Liebe zum Vinyl erzählt, aber auch eine kleine Philosophie des Plattenspielers ist. Ein Gerät, das die Welt veränderte? Sogar der mit Superlativen zurückhaltende Theodor W. Adorno sprach 1969 in „Oper und Langspielplatte“ von einer „Revolution“, wie Liessmann schreibt, und Friedrich Kittlers geniale Technikphilosophie „Grammophon Film Typewriter“ ist weltberühmt.
Als er in Wien Philosophie studierte, kaufte sich Konrad Paul Liessmann den ersten eigenen Plattenspieler und machte sich auf Entdeckungsreisen durch die Plattenläden. Er zieht ein paar Platten aus dem Regal, die ihm besonders wichtig sind. Zu jeder gibt es eine Geschichte, wann und wo er sie erworben hat. Manchmal war es nur das Cover, das ihn zum Kauf verführte. Da steht „Der Freischütz“ neben Velvet Underground mit der berühmten Banane von Andy Warhol oder die von Adorno hochgelobten Beethoven-Symphonien von René Leibowitz, die damals nur in einem französischen Antiquariat aufzutreiben waren, neben „Ars Longa Vita Brevis“ von der Prog-Rock-Band The Nice.
Aus dem Regal zieht Liessmann eine Platte. Sein „größter Schatz“, sagt er, ein Direktschnitt von Wagners „Der Ritt der Walküren“, seit über 50 Jahren in seinem Besitz. Eine Seltenheit für Liebhaber, die er nun aus der Hülle zieht und behutsam auf den Plattenspieler legt. Die Platte wird nass abgespielt. Eine Aufmerksamkeit gegenüber den Dingen, die im Zeitalter des Streamings per Klick oder Wisch antiquiert oder unzeitgemäß wirkt. Von Liessmann auf das rote Ledersofa dirigiert, auf dem er selbst immer zum Musikhören sitzt, erklingen die wuchtigen Blechbläser, als ob man mitten im Orchester säße und nicht in einer ruhigen Altbauwohnung in Wiens 6. Bezirk. Auf einem der Boxentürme steht eine Wagner-Büste, und fast scheint es, als würde sie lächeln, während die Walküren über einen hinwegdonnern.
Einen Plattenspieler besitzt Liessmann, trotz der neuen akustischen Konsumkultur der Streamingdienste, nicht nur aus Nostalgie, sondern auch aus philosophischen Gründen. „Reproduktionstechnologien, das habe ich bei Walter Benjamin und Günther Anders gelernt, formieren unsere Wahrnehmungen und damit auch unsere Empfindungen“, schreibt er in seinem Buch. Es geht nicht nur um den magischen Moment, wenn sich die Nadel in die Rillen des Vinyls herabsenkt, sondern um das Verhältnis zur Welt. Das Digitale ist eine Welt der Zahlen, nicht der Dinge. Oder anders gesagt: „Wer digitalisierte Musik hört, rechnet, wer sich eine Schallplatte auflegt, philosophiert“, so Liessmann.
„Ich bin kein Kulturpessimist, aber mich beschäftigt, dass sich die Dingwelt, die mich ein Leben lang begleitet hat, im Zeitalter der Digitalisierung verflüchtigt“, sagt Liessmann. Er sitzt im dunklen Anzug auf dem roten Sofa, darüber hängen Gemälde, die er sich „erschrieben“ hat, als Geschenk für einen Katalogtext oder eine Rede bei einer Ausstellungseröffnung. Immer mit einer Geschichte dazu, auch hier. „Ein E-Book kann nicht abgegriffen sein wie ein Buch. Doch die Spuren drücken eine Beziehung zwischen mir und dem Ding aus“, sagt Liessmann weiter. „Der digitale Code hinterlässt keine Spur mehr bei uns, aber wir hinterlassen Spuren im Digitalen. Eine Datenspur des Konsums, unserer Kreditkarte, unserer Aufrufe und Vorlieben.“ So werden wir im Digitalen, trotz oder wegen der Allverfügbarkeit, immer beziehungsloser.
Verschwindet das Dinghafte an den Dingen? „Man kann das Digitale wie die platonische Ideenwelt begreifen, ohne Beiwerk und Hülle, ohne Schein und Täuschung, ohne sinnliche Attraktivität“, sagt Liessmann. „Oder als säkularisierte protestantische Kirche, in der nichts Üppiges, Glänzendes, Verführerisches mehr sein darf, sondern nur noch die reine Botschaft. Doch als Sinnenwesen lebt der Mensch nicht nur von der Botschaft.“ Es geht Liessmann um das, was – von den Theoretikern der Verdinglichung notorisch unterschätzt – die Botschaft transportiert, umhüllt oder vergegenständlicht. So haben sich die Zeichen der Zeit geändert: Was im 20. Jahrhundert die Kritik der Verdinglichung war, könnte im 21. Jahrhundert die Kritik der Entdinglichung werden.
Liessmanns philosophischer Weg zu den Dingen führte von den schon zu Schulzeiten entdeckten Marx und Hegel, den Denkern einer unheimlichen Verselbstständigung der Dingwelt, über Adorno, Benjamin und Nietzsche zu Günther Anders, dem großen Vergessenen der deutschen Philosophiegeschichte, der mit Hannah Arendt verheiratet war, bevor sie weltberühmt wurde. Aus der Schule der Phänomenologie nach Husserl sei Anders derjenige gewesen, der sich am radikalsten der modernen Dingwelt zuwandte, sagt Liessmann, mit bis heute unübertroffenen Texten zum Fernsehapparat oder zur Atombombe. Als er Anfang der 1980er-Jahre Anders kennenlernte, galt dessen Hauptwerk „Die Antiquiertheit des Menschen“ als Geheimtipp, das es auch heute noch ist. Anders lebte damals in Wien, bis zu seinem Tod 1992 stand Liessmann im engen Kontakt mit ihm und rehabilitierte den Philosophen in der akademischen Welt: mit einer allerersten Tagung zu dessen Werk und der Gründung einer Anders-Gesellschaft.
In seiner Schulzeit hatte er zwei prägende Lehrer
Die Philosophie hat zwei Wurzeln“, erklärt Liessmann, der als Kolumnist und Talkshow-Gast auch eine Öffentlichkeit abseits des Elfenbeinturms gesucht und gefunden hat: „Den Marktplatz, auf dem Sokrates unterwegs war, und die Akademie, die Platon gegründet hat“, sagt Liessmann. Ohne außerakademische Philosophen wie Kierkegaard, Nietzsche, Schopenhauer und Marx würde es auch in der Akademie öde zugehen, ganz ohne Existenzialismus, Lebensphilosophie, Pessimismus oder dialektischen Materialismus.
So hat Liessmann während der Jahre, die er als Philosophieprofessor an der Wiener Uni lehrte, immer auch Zweifel auf dem modernen Marktplatz der Meinungen gestreut. Oft hat er sich in seinen Beiträgen – im Sinne von Nietzsches „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ – gegen den Zeitgeist gestellt, wie er schon als Student in einer linken 68er-Zeitung mit Adornos Autonomieästhetik für Aufruhr sorgte. Die galt nämlich als reaktionär; Parteilichkeit und Engagement waren angesagt. Auch heute werde wieder häufiger so argumentiert, sagt Liessmann.
Er zeigt zwei weitere Bücher, mit denen er als streitfreudiger Denker zu einem seiner Lebensthemen bekannt wurde: „Theorie der Unbildung“ und „Bildung als Provokation“. Immer wieder klagt Liessmann lautstark die Irrwege einer Bildungspolitik mit ihrer verhängnisvollen Kompetenzorientierung, der Entwertung des Wissens und der durch den Pisa-Test vorgegebenen Reduktion auf Grundoperationen wie Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften an. „Man soll die Kinder nicht dort abholen, wo sie sind, sondern zeigen, wo sie hinkommen können“, sagt Liessmann. Auch in der Universität, wo seit der Bologna-Reform die Verschulung und Verplanung immer größere Ausmaße annehmen. Das sei die Zerstörung einer akademischen Welt gewesen, zu deren Ideal einmal die Freiheit von Forschung und Lehre gehörten.
In seiner eigenen Schulzeit habe er zwei prägende Lehrer gehabt, erzählt Liessmann, einen fortschrittlichen Deutsch- und einen konservativen Religionslehrer. Beide forderten ihn heraus, nickten nicht fröhlich alles ab. Ohne Anstrengung gibt es kein Glück. Es braucht – wie bei den Dingen – Reibung, damit Spuren bleiben. Liessmanns philosophisches Programm ist eines, das Einspruch erhebt gegen eine Gegenwart des Reibungslosen und des Glatten, wie sie sich im von Algorithmen gesteuerten Digitalen ankündigt. In seinem Denken knistert es noch, wie bei einer alten Lieblingsplatte.
Konrad Paul Liessmann, 1953 in Villach geboren, war bis 2021 Professor für Philosophie an der Universität Wien. Seit 1997 ist er in der Leitung des „Philosophicum Lech“, das jedes Jahr ein viel beachtetes interdisziplinäres Symposium veranstaltet. Zuletzt sind von ihm die Bücher „Alle Lust will Ewigkeit“ (2021), „Lauter Lügen“ (2023) und „Der Plattenspieler“ (2025) erschienen. Im Herbst erscheint „Was nun? Eine Philosophie der Krise“. Für seine Veröffentlichungen hat er zahlreiche Preise erhalten. Wenn Liessmann nicht Musik hört oder Bücher liest und schreibt, macht er ausgiebige Touren mit seinem Rennrad, dem er in seinem Buch „Das Universum der Dinge“ ein eigenes Kapitel gewidmet hat.
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