Romain Graziani ist Sinologe und Philosoph, sein neues, in Frankreich bei Gallimard erschienenes Buch über die „Triebkräfte der politischen Kultur Chinas“ trägt den Titel „Die Gesetze und die Zahlen“ („Les Lois et les Nombres“) und beschreibt die Ursprünge der politischen Herrschaft in China. Dabei geht es ebenso um Xi Jinpings quasi monarchistischen Machtbegriff wie um die Geschichte des Bestrebens, die Bevölkerung mittels Technik zu kontrollieren. In Chinas Auseinandersetzung mit dem Westen, erklärt Graziani im Gespräch, spiele beides eine zentrale Rolle.

WELT: Muss man sich den Handelskrieg zwischen den Vereinigten Staaten und China wie ein Aufeinandertreffen zweier widerstreitender politischer Logiken vorstellen? Oder glauben Sie wie der französische Rechtswissenschaftler Alain Supiot an eine „Hochzeit von Kapitalismus und Kommunismus“ in einem gemeinsamen zahlengetriebenen Herrschafts-Modell?

Romain Graziani: China und die Vereinigten Staaten sind heute in einer „Herrschaft durch Zahlen“ verbunden, die es ermöglicht, die Realität auf Messbares zu reduzieren. Technologisch und kommerziell begegnen sich die beiden Großmächte dabei auf Augenhöhe, was für China ein historischer Wendepunkt ist. Die Trümpfe, die beide Seiten in den Händen halten, unterscheiden sich allerdings. Alain Supiot hat mit seiner Formulierung das Phänomen des dirigistischen und autoritären Staats-Kapitalismus in China beschrieben, das Xi Jinping gegenüber Trump und seinem Team in eine Machtposition gebracht hat.

Was meine ich mit Machtposition? Xi hat den Vorteil, viel Zeit zu haben, weil es in China keine strukturierte oder hörbare Opposition gibt, die ihm Steine in den Weg legen oder seinen Spielraum einschränken könnte. Außerdem ermöglicht ihm die amerikanische Offensive, von seiner Bevölkerung gewisse Entbehrungen und Opfer zu verlangen.

Der amerikanische Präsident hingegen wird trotz seiner tyrannischen Art und seines infantilen Narzissmus schon bald gezwungen sein, Rechenschaft abzulegen, und zwar sowohl vor seinen Wählern als auch vor den ökonomischen Eliten, die ihn an die Macht gebracht haben. Wenn ich mir die gegensätzlichen Stile der beiden Präsidenten ansehe, muss ich ein wenig amüsiert an „Die Kunst des Krieges“ des chinesischen Philosophen Sunzi denken: Ein guter Stratege kann einen Sieg erringen, ohne eine Schlacht zu schlagen, wenn es ihm gelingt, die Charakterfehler des gegnerischen Generals auszunutzen und ihn dazu zu bringen, sich vor seinen Truppen zu diskreditieren und sogar seine ganze Armee zu ruinieren!

WELT: Das alte China verwendete als erste Zivilisation überhaupt Zahlen, um einen Staat zu regieren, schreiben Sie.

Graziani: Die chinesischen Königreiche im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung befanden sich ständig im Krieg und mussten ihre Ressourcen deshalb möglichst effizient einsetzen. Damals wurde die Quantifizierung der gesamten sozialen Produktion zur Regel. Diese „Digitalisierung“ der politischen, wirtschaftlichen und juristischen Prozesse – Volkszählung, Ernteerhebungen, Produktivitätsnormen in Werkstätten, quantitative Bewertung von Arbeitsleistung, strikte Festlegung von Strafen usw. – half, Profite zu maximieren und „subjektive“ Eingriffe zu reduzieren. In dieser Hinsicht ist das Reich der ersten chinesischen Dynastie, die im Jahr 221 v. Chr. begründet wurde, auch die erste Technokratie der Geschichte.

WELT: Beziehen sich Xi Jinping und seine Berater darauf?

Graziani: Xi liebt es, sich auf Han Fei zu beziehen, den großen Rechtstheoretiker der absoluten Macht (er starb 233 v. Chr.), doch über diese Referenzen hinaus braucht man nur zu beobachten, wie er arbeitet und welche Vorstellung von Macht er hat. Wie Han Fei ist Xi überzeugt, dass Macht einheitlich und unteilbar sein muss und keine Instanz sie von außen einschränken darf. Auch die Macht der Partei darf der Gesetzgebung nicht unterworfen werden. Xi Jinping schließt damit an den zutiefst monarchistischen Charakter der politischen Gedankenwelt Chinas an. Dieses Machtverständnis ist auf die Gründungszeit Chinas zurückzuführen und nicht etwa auf einen sowjetischen Einfluss, wie manche Politikwissenschaftler nach wie vor annehmen.

WELT: Rechtsgelehrte sind in China keine Juristen im westlichen Sinne, und auch die Auffassung von Rechtstaatlichkeit ist in China eine ganz andere als in der westlichen Welt.

Graziani: Die teils Jahrzehnte alten Versuche von Chinas Staatsführung, einen Rechtsstaat oder eine Verfassung durchzusetzen, stehen im direkten Widerspruch zu diesem Machtbegriff. Dabei muss man allerdings zugestehen, dass die chinesische Auffassung von einem Gesetz mit dem Begriff „Lex“ unserer Tradition von Anfang an nur sehr wenig zu tun gehabt hat, und dass es auch keine „Jus“, also keine reflektierende Auseinandersetzung mit dem Recht und der Zivilgesellschaft gibt. Chinas politischer Kultur fehlen die Werte, die für uns Europäer grundlegend sind, beispielsweise der Freiheitsbegriff. Sie legt mehr Wert auf Effizienz, kohärentes Handeln und Ordnung.

WELT: Hat sich das chinesische Volk im Verlauf der Jahrhunderte an eine gewisse Form der Passivität gewöhnt, angesichts der Herrschaft eines Monarchen?

Graziani: Es war intellektuell sehr schwierig, sich von diesem monarchischen Rahmen zu befreien, denn die chinesischen Denker haben vor der Moderne keine Typologie möglicher politischer Regierungsformen vorgeschlagen. Doch schon in der Antike haben manche Philosophen die Grundlagen der zivilisatorischen Ordnung infrage gestellt, die von der regierenden Elite und dann dem Kaiserreich propagiert wurden. Es handelt sich dabei um eine radikale Infragestellung aller Werte und sämtlicher Institutionen, die die politischen Systeme organisieren. In meinem Essay erkläre ich auch die erschreckend klare Kritik an der Macht, die bereits in der Antike geäußert wurde, aber vor der Moderne nicht zu großen Reformprojekten geführt hat.

Ab dem 19. Jahrhundert haben sich dann intellektuelle Strömungen zugunsten der Liberalisierung, der Machtteilung und des Republikanismus entwickelt. Die Gründung der Republik China im Jahre 1911 war die Folge dieser langjährigen Vorarbeit. Die republikanischen und demokratischen Bewegungen in China wurden allerdings schnell wieder niedergeschlagen und im Keim erstickt. Und doch gab es in China über einen Zeitraum von rund zweitausend Jahren hinweg im Durchschnitt alle zwanzig Jahre bedeutende Aufstände. Man kann also nicht von einer vollkommen passiven Bevölkerung sprechen, ganz im Gegenteil: Seit der Antike hat es immer wieder freie und mutige Menschen gegeben, doch die Gegner der imperialen Machtvorstellung waren nie in der Lage, sich dauerhaft in den zivilen Praktiken oder den institutionellen Formen verankern.

WELT: Existiert der Begriff „Freiheit“ denn gar nicht in der philosophischen Tradition Chinas?

Graziani: Der Begriff „Freiheit“ hat im politischen Vokabular Chinas vor der Beeinflussung durch westliche Ideen tatsächlich nicht existiert. Was Freiheit ähneln könnte, wäre ein Ideal der Bewegungsfreiheit, einer glücklichen Spontaneität oder das Gefühl, in etwas „freie Hand zu haben“. Es gibt zwar ähnliche Ideen, doch Freiheit als politischen Wert findet man nicht. Was die Chinesen jedoch nicht daran hindert, genau wie wir auf Erfahrungen wie Gefangenschaft, Zensur oder Staatsgewalt zu reagieren.

WELT: Im alten China ging die bürokratische Regierung auch noch mit einer Entpersonalisierung der imperialen Macht einher. Könnte man diesen „Kult des Unpersönlichen“ als eine Art Vorläufer für eine Regierung aus Maschinen und durch die KI verstehen?

Graziani: Es gibt bei den chinesischen Denkern eine ausgesprochen interessante Verbindung zwischen dem antiken Ideal der Unpersönlichkeit der Macht und der „Herrschaft durch Zahlen“ unserer heutigen Zeit. Die Rechtsgelehrten von vor zwei Jahrtausenden waren die ersten, die das Ideal einer Automatisierung von Aufgaben und eine automatische Steuerung durch die Magie von Mechanismen und „Maßnahmen“ einführten. Das ist die legistische Version des taoistischen Ideals des Nicht-Handelns. Man kann nicht an jeder Straßenecke einen Spion aufstellen, um alle Verbrecher ausfindig zu machen, doch genauso, bemerkte Han Fei, wie man nicht unter jeden Baum einen Bogenschützen stellen kann, der die Vögel abschießt, reicht es aus, ein riesiges Netz über ein ganzes Tal zu spannen, um automatisch alle Vögel zu fangen, die es durchqueren.

Dieses Netz ist das Hilfsmittel, über das der Staat verfügen muss. Heute wäre dieses Netz das Internet, mit seiner automatischen Ortung und Speicherung gewisser Signale, die als subversiv eingestuft werden. Diese Idee von Hilfsmitteln bei der Überwachung und automatischen Ortungsgeräten hatten sich bereits diese Rechtsgelehrten ausgedacht, mithilfe von Analogien, die durch die Techniken ihrer Epoche inspiriert wurden. Es geht also darum, Techniken zu entwickeln, die nicht von Menschen abhängig sind. Sämtliche Überwachungsinstrumente, die in Zusammenarbeit mit der künstlichen Intelligenz entwickelt wurden, stellen nur eine Fortsetzung dieser Logik dar. Heute führt das zur – einstweilen noch experimentellen – Einführung von Polizeistationen ohne Polizisten sowie Roboter-Richtern, die die eigentlichen Richter unterstützen.

WELT: Ist die chinesische Gesellschaft deshalb empfänglicher dafür, sich von künstlicher Intelligenz regieren zu lassen?

Graziani: Die Chinesen werden im täglichen Einsatz von KI sehr viel schneller voranschreiten, da sie weder von juristischen Hindernissen gebremst werden noch Bedenken in Bezug auf den Schutz des Privatlebens haben wie wir. Es gibt sogar Gesetze, die diese Prozesse beschleunigen sollen. In Europa ist es beispielsweise unmöglich, alle Daten der Bürger miteinander zu verknüpfen, während man in China über einen rechtlichen Rahmen verfügt, der gerade das zum Ziel hat – dieser ist allerdings noch längst nicht fertiggestellt, da es immense Komplikationen gibt. Und viele der chinesischen Staatsbürger sind zweifellos nur allzu bereit, diese unpersönliche Form einer Herrschaft zu akzeptieren, die auf Normen und Zahlen beruht, da sie den Anschein erweckt, weniger anfällig für die Machenschaften eines fehlgeleiteten Herrschers oder die Willkür kleiner, lokaler Machthaber zu sein.

WELT: Diese Unpersönlichkeit der Macht im alten China bildet einen starken Gegensatz zu der starken Personalisierung, die man im kommunistischen China kennt, von Mao bis Xi Jinping. Wie lässt sich das erklären?

Graziani: Wenn man von einem Personenkult spricht, muss man verschiedene Ebenen betrachten. Mao hatte, was auch immer man von ihm halten mag, einen ausgesprochen markanten persönlichen Stil. Er wurde in seinen privaten Wohnungen fotografiert, bei Empfängen, aber auch beim Schwimmen oder beim Essen. Er setzte sein Leben ständig in Szene, was Xi Jinping nun wiederum nicht tut. Der Personenkult um Xi ist vor allem ein Kult um ihn als Staatsoberhaupt und als historischer Wegbereiter der großen Wiedergeburt der chinesischen Nation. Was Xi Jinping über seine Jugend, über seinen Leidensweg während der Kulturrevolution oder über die ungerechte Behandlung durch seinen Vater erzählt, das gehört alles zum narrativen Material der Imagebildung.

WELT: Ist die Idee einer absoluten Überwachung der Bevölkerung in der politischen Vorstellungswelt Chinas wirklich so allgegenwärtig?

Graziani: Ursprünglich war es in der politischen Vorstellung der Chinesen, die etwa Tausend Jahre vor unserer Zeit Gestalt annahm, der Herrscher selbst, der vom Himmel überwacht wurde: Er musste tugendhaft sein und für sein Volk Gutes tun, da er sonst sein himmlisches Mandat verlieren würde. Mit den legistischen Denkern wurde diese Sicht der Dinge dann ins Gegenteil verkehrt: Um seine Macht zu stärken, musste er vor allem seine Verwaltung überwachen und sich der bedingungslosen Loyalität und des Fleißes seiner Untertanen versichern. Im 4. Jahrhundert v. Chr. war eine vollständige Überwachung des gesamten Staatsgebiets noch unmöglich, daher versuchte man, zumindest den Anschein zu erwecken, dass dem Auge des Staates nichts entging. Heute sind die Überwachsungstechniken unendlich viel raffinierter, und die Repression hat seit der Covid-Pandemie noch erheblich zugenommen, doch die Formulierung des Sicherheitskonzepts und die Beziehung zwischen dem Machtapparat und seinen Untertanen hat sich kaum verändert.

WELT: Welchen Vergleich würden Sie zwischen der politischen Weltvorstellung Chinas und unserer westlichen Realität stellen?

Graziani: Was in China passiert, ist gar nicht so weit entfernt vom schnellen Wandel unserer Gesellschaften, die ja auch einen wachsenden Einfluss von Quantifizierung und der numerischen Bewertung von Bürgern, Ressourcen, Arbeit und sogar von Denkweisen erleben. Noch sind wir in Europa dank eines juristischen Apparats geschützt, den es in China so nicht gibt. In dieser Hinsicht kann China uns gleichzeitig als Spiegel und Menetekel dienen. Es erinnert uns an Einsichten der Aufklärung, über die wir getrost nachdenken sollten, um nicht in eine Form blinder Herrschaft durch Zahlen, Algorithmen oder KI zu geraten. Denn wir befinden uns an einem Wendepunkt, an dem wir uns den antiken Erfolgsrezepten der chinesischen Machthaber annähern: Heute verwenden wir Zahlen, Algorithmen, Codierungen und Robotisierung auf ganz ähnliche Weise.

Dieses Interview erschien in einer längeren Fassung zuerst in „Le Figaro“, wie WELT Mitglied der Leading European Newspaper Alliance (Lena).

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