Von diesem Schlachtfeld geht keiner mit erhobenem Kopf: Der Aufsichtsrat der Hamburgischen Staatsoper und Ballettdirektor Demis Volpi, der Nachfolger von John Neumeier, einigen sich einvernehmlich auf einen Auflösungsvertrag zum Ende der Spielzeit mit sofortiger Freistellung. Das gab die Pressestelle des Hamburg Ballett bekannt. Und so bleiben hier, auf einem Terrain, wo für gewöhnlich Harmonie, Frieden und Schönheit herrschen sollten, nur kulturpolitisch rauchende Trümmer übrig. Vom Platz gehen lediglich Verlierer.
Denn die „Einvernehmlichkeit“, sie wird wohl nur nach außen demonstriert. Eine sogenannte „Gefährdungsbeurteilung“, anonym durchgeführt als arbeitsrechtliche Maßnahme von der Kulturbehörde unter den Hamburger Tänzern, die Mobbing-Vorwürfe gegen Volpi erhoben hatten, war wohl zu dem Ergebnis gelangt, dass der angeschlagene Volpi nicht mehr zu halten sei. Das soll den Tänzern bereits vor der Rückkehr von einem Gastspiel mit Neumeiers „Tod in Venedig“ mitgeteilt wurden sein. So gibt es nur auch noch einen „Ballettdirektorentod in Hamburg“.
Der mit den gestanzt wirkenden Volpi-Worten endet: „Meine Vision – sowohl in künstlerischer Hinsicht als auch im Hinblick auf eine zeitgemäße Struktur, die offene und verantwortungsvolle Zusammenarbeit innerhalb einer Ballettkompanie ermöglicht – ließ sich trotz intensiver Bemühungen unter den aktuellen Rahmenbedingungen am Hamburg Ballett nicht weiter verwirklichen.“
Musste es so weit kommen? Durch eine Revolte oder eine Intrige gar? Man weiß es nicht. Jedenfalls wird klar, die Strategie des Kultursenators und gerade wiedergewählten Bühnenvereinspräsidenten Carsten Brosda, mithilfe einer Findungskommission aus renommierten Ballettchefs wie auch dem ehemaligen Hamburger Ballettkaiser John Neumeier, einen neuen Choreografen hier aufsteigen zu lassen, sie ist krachend gescheitert.
51 Jahren Alleinherrschaft John Neumeiers
Wie soll es jetzt weitergehen? Eine der renommiertesten Ballettkompanien der Welt ist von einem Tag auf den anderen kopflos geworden. Der Aufsichtsrat der Hamburgischen Staatsoper hat zwar beschlossen, eine gemeinschaftliche Interimsleitung des Hamburg Ballett bis zum Ende der Spielzeit 2025/2026 anzustreben. „Dazu finden aktuell Gespräche mit dem stellvertretenden Ballettintendanten Lloyd Riggins, dem Ballettbetriebsdirektor Nicolas Hartmann und der stellvertretenden Direktorin der Ballettschule Gigi Hyatt statt. Zudem laufen mit dem Ballettbetriebsdirektor Nicolas Hartmann Verhandlungen über die interimistische Übernahme der Position des Geschäftsführers.“ Aber das kann diese Katastrophe nicht mindern.
Es war aber auch zu naiv, was hier einem Nachfolger zugemutet worden war: Nach 51 Jahren Alleinherrschaft John Neumeiers sollte dessen Erbe quasi komplett erhalten werden, inklusive der Übernahme alle seiner Protagonisten. Gleichzeitig sollte auf Augenhöhe Neues geschaffen werden, vom choreografierenden Ballettdirektor selbst wie auch von den berühmtesten Zeitgenossen, die hier gleichwohl 51 Jahre vor der Tür gehalten worden waren. Dafür sollte der Neue herumreisen, Beziehungen knüpfen, aber auch täglich im Ballettsaal stehen, wie der heute 86- Jahre alte Altdirektor. Mit der Truppe von Tobias Kratzer als neuem Opernintendanten und Omer Meir Wellber als neuem Generalmusikdirektor ab nächster Spielzeit sollte der neue Tanzchef aufs Engste kooperieren, außerdem eine Tanzbiennale für Hamburg planen.
Aber niemand, auch Demis Volpi nicht, hat sich offenbar klargemacht, wie das zu schaffen sein soll. Zumal es schon Ärger gab, als der nach wie vor überpräsente, sich ständig bei Wiederaufnahmen wie Gastspielen mitverbeugende John Neumeier glaubte, als Weiterhin-Chef des Bundesjungendballetts im Ballettzentrum ein Büro haben zu müssen. Wie hätte so, die langjährigen, unbedingten Neumeier-Fans jammern um jedes Stück, das aus dem Repertoire verschwinden, ein Neuanfang geschafft werden können? Aber das Hamburg Ballett darf eben kein Neumeier-Katafalk werden, es muss sich endlich auch einer Zukunft des Tanzes zuwenden.
Dafür hätte man – mit der Choreografen-Lösung – entweder einen harten Schnitt mit vielen Entlassungen (so wie es auch Neumeier selbst bei seinem Antritt 1973 praktiziert hat) machen und das Repertoire radikal neu einpflegen müssen; was nicht ohne Ärger abgegangen wäre. Oder man hätte zunächst einen Nicht-Choreografen holen sollen, der stur auf Erweiterung setzt und nach einer gewissen Interimszeit Platz für einen Kreativen gemacht hätte.
Jetzt wurde hier ein namhafter, aber eben nicht auf Neumeier-Augenhöhe agierender Choreograf verbrannt; was sicher auch nicht billig werden wird. Denn Demis Volpi muss jetzt erst einmal komplett einpacken, ihm wurde jegliche Form von Arbeitselan, Menschenführung, Tanzkönnen, Kompanieleitung abgesprochen. Der Mann ist zerstört und hat fertig. Seine abendfüllende Uraufführung, „Demian“ nach Hermann Hesse, sowie schon verschoben auf Dezember, wird es jetzt ebenso wenig geben wie Kreationen in der nächsten Spielzeit oder die vorgezogene Übernahme von Volpis „Surrogates Cities“ auf dem „Demian“-Premierentermin zur Eröffnung der Ballettwoche am 6. Juli. Überall gähnen nun Leerstellen in der Disposition.
Fünf Solisten des Hamburg Balletts hatten gekündigt, die Hälfte der Truppe einen offenen Brief gegen Volpi unterschrieben. Weitere 17 Düsseldorfer Tänzer (von denen freilich keiner namentlich genannt ist) haben einen weiteren Brief gegen ihren ehemaligen, angeblich mobbenden Chef angezettelt. Eine jugendliche Neumeier-Favoritin, die Volpi nicht in die Kompanie übernehmen wollte, sei Panikattacken-traumatisiert zusammengebrochen, wurde kolportiert. Und die Hamburger Medien, selbst der „Spiegel“, der niemals über das künstlerische Wirken des Hamburg Ballett schreibt, sie weideten sich ohne allzu viel Nachfragen an der vorverurteilenden Demontierung des Ballettdirektors. Nachdem sie vorher alle brav dem Brosda-Narrativ gefolgt waren und Volpi in den Himmel geschrieben hatten.
Und nicht nur das. Die ersten beiden Premieren, ein Vierteiler mit älteren Stücken von Pina Bausch, Demis Volpi, Hans van Manen und Justin Peck sowie ein Zweiteiler mit einer Forsythe-Erstaufführung und einer Aszure-Barton-Uraufführung zündeten durchaus. Und dann schlug das Pendel plötzlich mit „Der muss weg“-geifernden Solisten ins Gegenteil um.
Soll jetzt das Neumeier-Regententum mit seinen Satrapen und Speichelleckern, bei denen der Altmeister von hinten an den Strippen zieht, auf ewig verlängert werden? Das kann es nun wirklich nicht sein. Das Ballett ist kein Erbhof. Und sein Werk, an dem John Neumeier, aber auch die Hansestadt via eine Stiftung die Rechte halten, wurde über Jahrzehnte in seiner Einzigartigkeit mit deutschen Steuergeldern finanziert. Es soll natürlich kein Hamburg Ballett ohne Neumeier-Werke geben, aber es muss ohne den Menschen Neumeier geführt werden können und trotzdem lebensfähig sein.
Ob es dazu kommen wird? Im Augenblick stehen die Zeichen schlecht. Der abrupte Volpi-Abgang, man kann auch von Rausschmiss reden, wird vor seinen Vertrauten nicht Halt machen. Halbfertige Ausstattungen müssen verschrottet werden. Tobias Kratzer, der mit Volpi sehr gut konnte, wird sich auf die Zunge beißen.
Das Fußvolk hat in Hamburg als starkes Kollektiv gewonnen. Vorerst. Aber ob es siegen wird? Eher nicht. Man schaue nur mal, wie kaputt das schon wieder führungslose Wuppertaler Tanztheater Jahrzehnte nach Pina Bauschs Tod noch ist. Will man solches jetzt auch für Hamburg mit einer praktisch unregierbaren Ballettkompanie, die sich jetzt erst recht in untröstlicher Neumeier-Nostalgie einigeln wird? Nach diesem Tag ist man auf dem besten Weg dazu.
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