Ein milder Frühsommertag am Zürcher Limmatquai. Die Luft ist lau, als ich mich an eine Strassenumfrage wage. «Darf ich Sie etwas fragen, für SRF? An welche Glücksmomente erinnern Sie sich?» Manche werfen einen flüchtigen Blick, manche schütteln den Kopf. Die meisten gehen weiter. Einer sagt: «Äxgüsi, der Tag war so verschissen …» Das wiederholt sich. Lange.
Ein Schluck Sommer, ein Hauch Vergangenheit
Neurowissenschaftler sagen, wir merken uns Negatives intensiver als Positives. Jedenfalls erstmal. Das liegt an der Amygdala, unserem «Frühwarnsystem» oder «Angstzentrum» im Gehirn. Sie springt besonders schnell auf negative Reize an – wie ein innerer Alarm, der losgeht, wenn im Gebüsch etwas raschelt und es eine Schlange sein könnte.
Vielleicht ist es auch eine Schnapsidee, sich nachmittags ans Limmatquai zu stellen und Gestresste nach Glücksmomenten zu fragen, denke ich. Einer bleibt stehen. «Erinnern Sie sich an Glücksmomente? Vor kurzem? Oder früher?»

«Das erste Gazosa im Tessin. In den Ferien, Ascona.» Eine andere erzählt, sie sei vor Kurzem durchs Appenzell gewandert, da habe jemand gekocht. Der Geruch des Gerichts habe bei ihr die Erinnerung an ihre längst verstorbene Grossmutter wachgerufen, die sei vor dem inneren Auge plötzlich wieder vor ihr gestanden. «Da war ich einen Moment lang glücklich.» Einer sagt, sein Sohn habe endlich eine Lehrstelle.
Eine andere erzählt vom Tag, als das Wahlrecht für Frauen kam: «Mein späterer Mann hat trotzdem nie den Müll heruntergetragen. So ist das mit dem Glück», sagt sie, lacht – und geht weiter.
Erinnerungs-Tagebuch
Eine Schülerin bleibt stehen, verweilt länger als die anderen. Wenn es um Erinnerungen gehe, habe sie an sich selbst beobachtet, dass sie sich intensiver an negative Sachen erinnere, wenn «mich jemand dumm anredet». Oder es gebe eine Kollegin, die werde gemobbt. Das würde ihr selbst tagelang nachgehen, obwohl sie gar nicht betroffen sei. Amygdala, denke ich mir.
Nach einiger Zeit wird mir klar, dass sie sich bereits tiefer mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Vor einiger Zeit mussten sie in der Schule ein «Tagebuch der schönen Erinnerungen» führen, erzählt sie.

Sie hätten jeden Tag Revue passieren lassen und drei schöne Erinnerungen aufschreiben müssen: «Nach einem Monat waren es – logisch – fast hundert.» Das habe gutgetan. Am Schluss habe sie das Ganze gelesen, «das hat noch besser getan.» Seitdem habe sich ihre Einstellung, mit der sie den Tag beginnt, geändert.
«Stimmungsmodulation» nennt das die Neurowissenschaft. Wir bekommen bessere Laune, wenn wir uns auf Schönes konzentrieren. Daraus ist längst eine Ratgeber-Industrie entstanden, denke ich mir. Aber kommerzielle Absichten kann man Lisas Experiment nicht zum Vorwurf machen, es ist erstmal nur eine persönliche Entdeckungsreise.
Drei Generationen Glück
Daraus habe sich die Idee für eine Projektarbeit entwickelt. Sie wollte Frauen mehrerer Generationen fragen, an welche glücklichen Momente sie sich erinnern, was Glück überhaupt sei. «Nicht das Glück, wenn man eine Prüfung besteht, sondern das Glück, das tiefer sitzt. Ich wollte herausfinden, ob sich das im Laufe des Lebens verändert, deshalb die drei Generationen», sie heisse übrigens Lisa.
Vor mir steht diese 17-Jährige. Ich bin Babyboomer, fast 50 Jahre trennen uns. Warum bin ich nicht auf diese Idee gekommen, frage ich mich. Aber Lisa erzählt schon weiter.
«Glück spürt man – immer»
Sie habe ihre Freundin Carla interviewt, «die ist auch 17, wie ich.» Carla erinnere sich, «dass sie als Kind gerne zwischen Wiesenblumen spielte, das machte sie damals glücklich», erzählt Lisa. Carla habe über Glück gesagt: «Man weiss es nicht immer, dass etwas Glück ist. Aber man spürt es – immer.»

Glück sei nicht ein Moment, sondern viele: Sich mit Freunden gut zu verstehen, dazuzugehören, aufgehoben zu sein. Ob sie irgendwann Familie habe, wisse sie nicht, aber Freunde werde sie weiterhin haben. Zum «Dazugehören» brauche es nicht unbedingt eine Familie.
Sie wünscht sich nur jemanden, den sie immer anrufen kann. «Das wird mich mit 40 immer noch glücklich machen.» Kann ich verstehen, denke ich mir, Einsamkeit ist eine Zumutung. Wenn sie mit Carla über Glück rede, sagt Lisa, dann gehe es ihnen nicht um Riesengrosses.
Die kleinen Gefallen würden es ausmachen. «Wenn es mir nicht gut geht und jemand kommt vorbei, macht mich das glücklich», hätte Carla gesagt, aber eine wichtige Bedingung für später sei, dass sie mit 40 eine Arbeit hat, die ihr Spass macht. Geld sei nicht ihre höchste Priorität.
Vom Glück des Innehaltens
Für Lisas Mutter ist Familie zentral. Bei jedem ihrer drei Kinder hätte es Glücksmomente gegeben, die ihr blieben. Die Geburt des ersten Kindes sei schwer gewesen. Das Schwere war irgendwann weg. Geblieben sei, wie sie und ihr Mann am Morgen nach der Entbindung dagesessen seien, das Neugeborene neben sich auf dem Bett. Frühstück. Pflaumenkonfi und Brot. Wenn sie heute irgendwo Pflaumenkonfi sehe …
An ihrem 40. Geburtstag hätten sie die vielen Menschen, ihre Kinder, ihr Mann, ihr Haus, das Gefühl, dass ihr ein Haus und ein kleines Unternehmen gehört, woran sie arbeiten konnte, glücklich gemacht. Das habe damals gepasst.

Heute sei Glück eher, im Moment sein zu können, das habe sie schon als Kind glücklich gemacht, aber das gelinge ihr heute weniger. Zu viele Sorgen. Die Weltlage. Der Krieg in der Ukraine. Totalitäre Politiker. Das deprimiere sie. Sie hätte nicht die Zeit, Glücksmomente aufzuschreiben. Vor Kurzem hätte sie ein Familienalbum aus dem Regal gezogen und fast vergessene Glücksmomente gefunden. Die waren plötzlich wieder da.
«Inseln» im Alltag
Heute mit fast 60 schätze sie die «Mini-Alltags-Glücksmomente». Zeit haben, um zu lesen. Gute TV-Serien schauen. Kürzlich sei sie spontan mit einer Freundin an einem sonnigen Nachmittag in ein Café gegangen. Ein Glücksmoment. Eine Insel mitten im Alltag.
Glück ist so ein grosses abstraktes Wort, denke ich mir. Und wenn ich Lisa so zuhöre, sind es kleine konkrete Momente, egal ob sie von ihrer Freundin oder ihrer Mutter erzählt.
Das stille Glück der Grossmutter
«Und was sind für deine Grossmutter glückliche Momente?» – «Dass ich deine Grossmutter sein durfte», habe die Grossmutter auf diese Frage zu ihr gesagt. Lisa ist anzusehen, was ihr der Satz bedeutet. «Sie ist fast 90, hat den Krieg erlebt, redet aber wenig darüber. «Ich habe mich nicht getraut, nachzufragen.»

«Glück» sei für die Grossmutter gewesen, dass es ihrer eigenen Familie gut geht. Heute schätzt sie es, gesund zu sein. Sie fühle sich auch privilegiert, in der Schweiz zu leben, «ein gutes Land, ein sicheres Land». Sie sei zufrieden. Das Wort «zufrieden» benutze die Grossmutter öfter als «glücklich». Sie habe einen Satz aus dem autogenen Training. Wenn sie sich den immer wieder vorsage, gehe es ihr auch meistens besser.
Das sei ihre Lebenseinstellung: Lisas Grossmutter konzentriert sich auf die positiven kleinen Dinge und legt die negativen einfach auf die Seite. Das hilft ihr, auch traurige Momente zu überstehen. Ihr Mann sei gestorben. Eine schwere Zeit. Seitdem lebt sie alleine. Sie habe die Trauer überstanden, sagt sie.
Mit dem Erinnern an Glücksmomente ist es so eine Sache. Ich als Babyboomer erinnere mich an den Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch in den 1980er-Jahren, der sagte: «Wenn man sich keine Erinnerungen schafft, kann man sich auch nicht erinnern.» Amygdala hin oder her, Hüsch hatte recht: Schöne Erinnerungen muss man sich schaffen.
So wie Lisa. Sonst rutschen sie einem weg. Das wäre schade, denn auch die Glücksmomente in unserem Jetzt sind irgendwann Erinnerung. Genau davon singen die deutschen Hip-Hopper Die Orsons in ihrem Lied «Jetzt»: «Sollten unsere Kinder irgendwann mal meckern, früher war alles viel besser, dann mein’ sie damit: jetzt, jetzt, jetzt, jetzt, jetzt …»
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