Früher war mehr flach. Heute ist alles „immersiv“. Das Lieblingswort im fortgeschrittenen Kunstdiskurs. Kein karrieretaugliches Kunstversprechen mehr ohne immersive Offerte. Gemeint ist etwas sehr Großes, ein Rundum-Angebot mit Eintauchmöglichkeiten, eine umschließende Erfahrung, in der man sinnlich untergehen darf, aufgesogen gleichsam von überwältigenden Erscheinungen. Was natürlich nur möglich ist, wenn alle Erkenntnisabstände gegen Null tendieren.
Nun also trifft man sich im Kunsthaus Zürich zur Immersion. Dort in der riesenhaften Hallengalerie des David Chipperfield, in der man sich allemal fühlt wie in einer Weltbörse vor dem Handelsbeginn, haben sie oben im zweiten Stock zwei Räume für die immersive Erstbegegnung mit Monster Chetwynd eingerichtet. Das hört sich schlimm an, ist aber ganz harmlos, fast liebenswürdig, ohne irgendeine Schreckeinlage. Die Künstlerin, Britin, gebildet (Bachelor, Master), Turnerpreis-Trägerin, heißt wohl anders, nennt sich eben so, was zu ihren bizarren Performance-Auftritten auch gut zu passen scheint.
Glitzer, Schminke, Tanz, Animation, Film, stampfende Rhythmen, dunkle Keller, grelle Barbeleuchtung. Das ist das Standard-Equipment, mit dem Monster Chetwynd in oszillierende Zwischenwelten entführt, in den populären Underground zwischen Tag und Nacht, zwischen männlich, weiblich und divers, zwischen Mensch und Tier, zwischen begehbarer Einbildung und geträumter Realität.
Weshalb man die Ausstellung auch gleich durch ein aufgerissenes Maul betritt und da und dort und überall auf hüttenartige Riesenköpfe mit gutmütigen Fratzengesichtern trifft, die inwendig zumeist gemütlich eingerichtet sind. Alles von schlichter Bauart und von anrührend infantilem Charme, als seien die lustigen Dinge in der Kita in fröhlicher Bastelarbeit entstanden. Eine Bilderbuch-Heiterkeit, die es einem nicht ganz leicht macht, wie empfohlen an „mittelalterliche Höllenschlünde“ zu denken.
Auch Bomarzo, der famose „Parco dei Mostri“ im italienischen Latium, ist doch ein ganzes Stück entfernt. Eher erinnert die Szene an ein Klassentreffen gutartiger Gespenster in einem bunten All-over voller Zitate alter Kunst, ferner Ornamentik, stoffgefertigter Rieseninsekten und Teufel im Sesamstraßen-Format. Es gibt buchstäblich keine Stelle im neuzeitlichen Höllenschlund, die nicht verhängt oder beklebt wäre.
Nun schlängelt man sich durch den Parcours der geräumigen Schädel. Nimmt im Schädelinnern auf einer gut gepolsterten Bank Platz vor einem Video, in dem die Chetwynd-Truppe nach Dover pilgert – immer den Spuren von Dickens’ Romanheld David Copperfield nach. Das ist ein bisschen langweilig, auch wenn unterwegs viel gelacht wird. Und man macht sich wieder auf den Weg wie auf dem Weihnachtsmarkt von einem Büdchen zum nächsten.
Vom „Hell Mouth“ geht’s zur „Flute Nose“, von „Benjamin’s Head“ zur „Fortunes Favourite“. Immer auf der Suche nach dem „tiefgründigen transhistorischen Amalgam“ aus mittelalterlichen Mysterien- und Fastnachtsspielen, Kunstgeschichte und Popkultur. Weniger soll’s ja angeblich nicht sein. Aber dann steht man eben doch nur vor einer Parade selbst gefertigter Bühnenmodelle, die das „vielschichtige Schaffen“ der Künstlerin begleiten.
Und vor den Film-Loops, die nebenan wandfüllend gezeigt werden, will ja auch nicht die rechte Underground-Stimmung aufkommen. Die Bildsprache hat etwas gänzlich Überraschungsfreies: Die Domina sieht aus, wie eine Domina auszusehen hat, die Tänzerin bewegt sich just, wie man es erwartet, der die Transsexuelle stolziert einher, als gäbe es für dieses Stolzieren ein international gültiges Drehbuch. Einigermassen spannend allein die Revue gemalter Fledermaus-Bilder. Auch da fallen einem gleich die volkstümlichen Gruselgeschichten ein.
Der Ruf der seltsamen Tiere ist wohl unheilbar beschädigt, weshalb ihr Auftritt im Zürcher Spektakel auch durchaus Sinn macht. Aber beim Nahblick erweist sich Chetwynds „Bat Opera“ doch wesentlich reicher, öffnet Phantasieräume, die weit über das Vampir-Klischee hinausreichen. Man muss nicht so weit gehen wie die Anglistik-Professorin Elisabeth Bronfen, die in ihrem Katalogbeitrag kein Fledermaus-Knöchelchen unbedacht lässt, aber recht hat sie schon, dass diese Gemälde auch deshalb extravagant und dramatisch seien, „weil ihre Farbpalette unsere Emotionen schürt.“
Folgenlose Unterhaltung im Kunsthaus Zürich
Nun sind wir wieder bei den Gefühlen. Und wollten eigentlich zur „Immersion“. Irgendwie stellt man sich die Ausstellungsverheißung ein wenig rauschhafter vor, mehr wie Überfahrt nach Anderwelt. Man wäre keineswegs widerständig, wenn einem beim dystopischen Wagnis Hören und Sehen vergingen. Die Magie resultiert allein aus der unendlichen Fülle von Anleihen und Anspielungen, die zusammen ein undurchdringliches Netz knüpfen.
Was unendlich ist, ist unübersehbar. Zu sehen ist allenfalls, wie alles irgendwie aneinanderhängt und nichts miteinander zu tun hat. Nichts aus einem anderen resultiert oder sich zwingend auf ein anderes bezieht. Es gibt keinen Verweis in dieser Schau, der zugleich Hinweis wäre. Keine Linie, kein Ergebnis. Alles addiert sich zur Nullsumme.
Und so ist man im Chetwynd-Theater gewesen. Hat in gebührendem Abstand mit verknäulten Stofftieren gekuschelt, ist durch finstere Lustkeller geschlichen, hat arkane Wandbehänge enträtselt, Umschau gehalten im Produktionsmuseum, im Kino die expliziten Sexszenen vermisst, vor denen ausdrücklich gewarnt wird, hat gut aufgepasst im Biologieunterricht bei den Microchiroptera und ist durchs aufgerissene Maul wieder in die Chetwynd-freie Chipperfield-Halle entkommen. Sagen wir so: Es ist auf folgenlose Weise unterhaltsam gewesen. Also doch wieder flach.
„Monster Chetwynd. The Trompe l’œil Cleavage“, bis 31. August 2025, Kunsthaus Zürich
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