Dass sich Thomas Mann zu Männern hingezogen fühlte, ist keine neue Erkenntnis. In vielen literarischen Werken schrieb er über homoerotisches Begehren und spätestens als seine Tagebücher 1975 postum veröffentlicht wurden, war klar, dass es sich bei diesen Geschichten nicht um reine Fiktion handelte.

Der unglückliche Tonio Kröger, der sich in der gleichnamigen Erzählung in einen Schulkameraden verliebt, entspringt Thomas Manns eigenen Erfahrungen. Auch der alternde Schriftsteller Gustav von Aschenbach der in «Der Tod in Venedig» einem Teenager verfällt, ist ein Alter Ego seines Schöpfers.
Biografische Lücken
Bisherige Biografen haben Thomas Manns Schwärmerei für Männer diskret zur Kenntnis genommen. Anders der Literaturhistoriker Tilmann Lahme. Er stellte fest, dass manche Quellen, in denen Thomas Mann über seine Homosexualität schrieb, bis jetzt bewusst zurückgehalten wurden. Sei es aus Prüderie oder weil man sich daran störte, dass der vielleicht bedeutendste deutsche Schriftsteller des letzten Jahrhunderts schwul war.

Tilman Lahme erhebt in seiner Biografie mit dem unverfänglichen Titel «Thomas Mann. Ein Leben» die Sexualität zum alles verändernden Faktor im Leben des Schriftstellers. Als entscheidende Quellen dienen ihm bisher unveröffentlichte Briefe an einen Jugendfreund.
Daraus geht hervor, dass der 17-jährige Thomas Mann versuchte, sich – entsprechend des Zeitgeists um das Jahr 1900 – von seiner Homosexualität zu heilen. Diesen Weg sei Thomas Mann ein Leben lang gegangen, hält Tilman Lahme fest.
«Heftige phallische Begierde»
Weil Thomas Mann 1905 Katia Pringsheim heiratete und Vater von sechs Kindern wurde, hätten Biografen die homoerotischen Neigungen als jugendliche «Gefühlsschwankungen» abgetan, sagt Lahme. «Aber Thomas Mann führte diese Ehe nicht, weil er sich verliebt hatte, sondern weil er glaubte, dass er damit von seiner Homosexualität loskommt.»
Wie wenig das gelang, dokumentieren in der Biografie abgedruckte Tagebuchauszüge. Sie berichten von «misslungenem Beischlaf» mit Frau Katia, «heftiger phallischer Begierde» und nächtlichen Samenergüssen, für die sich Thomas Mann schämte. Aber sind diese intimen Details notwendig, um Thomas Mann besser zu verstehen?
Auf jeden Fall ist Tilman Lahmes Argumentation, damit das Leiden des Schriftstellers aufzuzeigen, redlich: «Wenn man ständig damit kämpft, was man liebt und begehrt, weil man es nicht haben darf, ist das aus meiner Sicht für eine Biografie das Allerwichtigste.»
«Es kenne mich die Welt»
Thomas Mann wollte eine Autorität sein. Das ist ihm gelungen. Nicht nur als preisgekrönter Autor, sondern auch als politische Instanz. Ein solches Leben als offen Homosexueller zu leben, wäre nie infrage gekommen. Sein bürgerliches Leben mit Frau und Kindern erscheint darum auch als Fassade.
Nicht nur auf Fotografien wirkt der Mann im korrekt sitzenden Anzug mit Krawatte oft unnahbar. Mit Tilmann Lahmes Biografie wird der Schriftsteller nun ein Stück menschlicher und umso interessanter.
Dass die Öffentlichkeit auch Thomas Manns privateste Seite kennenlernt, wäre wohl in seinem Sinne gewesen. Denn wenige Jahre vor seinem Tod 1955 schrieb er in sein Tagebuch: «Es kenne mich die Welt nicht nur in dem, was ich als Literarisches geleistet habe, sondern in meinem Leid und in meinem Kampf.»
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