"Ein jegliches hat seine Zeit, und alles unter dem Himmel seine Stunde", heißt es im Buch der Prediger in der Bibel, und die Stunde der englischen Band Pulp fiel in eine Zeit, in der die Musikgesellschaft gespalten war: Die eine Hälfte stand auf der Seite der Band Blur, die andere Hälfte bei der Band Oasis. Es waren die 90er-Jahre; es war ein Jahrzehnt, in dem die britische Popmusik strahlte, wie sie seit den 60ern und den Beatles nicht mehr geleuchtet hatte. Und mit jedem Lied, mit jedem Nummer-eins-Hit wuchsen die Egos der singenden Superstars.
Als der vom Battle of the Bands aufgewirbelte Staub sich gelegt hatte, trat aus dem Dunst ein Mann, der den Pony ölig-zerfranst trug und auf dessen Nase oft eine Brille saß, deren Gläser die Größe eines Ziegelsteins hatten. Jarvis Cocker, der Popgott der Außenseiter und der Schrägvögel, ein Mann mit dem Testosterongehalt einer Holzpuppe, die an Fäden hängt. Im Herbst 1995 hörten alle, die keine Lust auf die Schmähreden der Gallagher-Brüder hatten, genauer hin, was Jarvis Cocker zu erzählen hatte. Es waren Liebeslieder eines Vorsichtigen: In "Disco 2000" etwa himmelte er eine Deborah an, eine Kindheitsliebe – wie würde es wohl sein, wenn sie sich als Erwachsene wiederträfen? Dieses "Warte ab" ist der Herzenswunsch vieler Übersehenen. Cocker sang für sie.
Pulp sind wieder da
Im September 1995 war die Stunde von Pulp gekommen, sie zog sich auf eine angenehme Weise. Das Album "A Different Class" war die Begleitmusik aller, die sich nicht der Mehrheit zugehörig fühlten. Die Onlineseite "Pitchfork" hat es auf Platz eins der 50 besten Britpop-Alben gewählt, und da steht es für immer und zu Recht. Pulp legten 1998 mit dem dunkelsamtigen Album "This is Hardcore" nach, einer eleganten Elegie des Verfalls, einer Platte wie eine glamouröse Krankheit. "We Love Life" von 2002 hielt sich nur wenige Wochen in den Charts, danach waren Pulp Geschichte – eine Geschichte, an die sich alle, die dabei gewesen waren, mit warmen Gefühlen erinnerten. Pulp hatten ihre Zeit und ihre Stunde gehabt. Die wahre Größe eines Künstlers besteht darin, sich der Welt nicht aufzudrängen. Der Meister darin heißt Jarvis Cocker.

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Eine Freundin erzählte einmal, vor einigen Jahren in London habe es abends an ihrer Tür geklingelt, und als sie öffnete, stand dort Jarvis Cocker in einer Art Bademantel. "Oh sorry, wrong door", habe er gesagt und sei weitergegangen.
Und so ein Klingeln ertönte auch vor ein paar Wochen, als in den Streamingdiensten unverhofft ein neues Pulp-Lied auftauchte. Tür auf, oh hallo Jarvis, und diesmal zog er nicht weiter. Pulp sind wieder da, nicht nur auf einer Comebacktour, sondern mit neuem Album, das den großartigen Titel "More" trägt. Nur "Mehr" – mehr nicht. Kann das wahr sein? Und: Kann das gut gehen?
Elf Lieder zwischen drei und sechs Minuten
Wieder ist eine Zeit, in der die Welt gespalten ist, diesmal auf viel grundlegendere Weise als in den 90ern. Aus Musik ist oft kaum mehr als die Hintergrundbeschallung einer hochgradig nervösen Gesellschaft geworden. Im Vergleich zu den Egos von heute (Musk, Söder, Kanye West) erscheinen die Ichlinge des Britpop rückblickend wie bissige Meerschweinchen. Balsam für die geschundene Seele ist zur kostbaren Ware geworden. Und wenn es an der Tür klingelt und Jarvis Cocker davorsteht, die Ponyfransen nun im Fuchston, der Bart in silbergrau, sollten wir ihn hereinbitten.
"More" ist dieser Balsam. Elf Lieder zwischen drei und sechs Minuten, klassisches Format, das die Kunstform Album wieder ernst nimmt, mit einer Knaller-Eröffnung ("Spike Island", ein Song, wie ihn Arcade Fire nie wieder hinbekommen werden) und einem Sternenstaub-Schluss ("Sunset").
Pulp sind in einem Alter (Cocker ist 61) angekommen, in dem sich die Verluste häufen: Die Band hat 2023 ihren Bassisten Steve Mackey verloren; ihm ist das Album gewidmet. Cockers Mutter starb ebenfalls 2023, die Frau, die ihren Sohn Jarvis so sehr zum guten Katholiken hatte erziehen wollen, dass ihm fast nichts anderes übrig blieb, als Atheist zu werden – auch wenn er die Initialen mit Jesus Christus teilt. Cocker wurde verlassen, hat eine neue Frau geheiratet, wovon er im Lied "Farmer's Market" berichtet.
Es ist schon lange nicht mehr 1995
Cocker hat einen Sohn, Albert, längst erwachsen, der ihm einst ungeahnte Gefühle entlockte: Beim gemeinsamen Schauen des "Dschungelbuchs" sei er in Tränen ausgebrochen, erzählte er dem "Rolling Stone". Der Sohn habe damals nur mit den Schultern gezuckt. Späte Verarbeitung: das Lied "Grown Ups", in dem Cocker fragt, worum Mogli überhaupt die Welt der Tiere verlassen habe. Bei aller Opulenz, allen Streichern, allem Jubilieren und allem stillen Sinnieren ist "More" anzumerken, dass hier ein Mann vor uns tritt, der viele Stunden beim Psychotherapeuten verbracht hat. Ein Mann, der sich einen Reim auf sein Leben machen will. Ein Mann, dem es ewig nicht gelang, das Wort "Liebe" in den Mund zu nehmen. Nun bricht es in "Got To Have Love" aus ihm heraus, "L – O – V – E" wird da mehrfach buchstabiert, als sei es ein Kirchengospel. Klingt großartig, könnte auf die Kinder aber ein bisschen peinlich wirken, wenn die Eltern in der Küche dieses Lied laut mitsingen.

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Das Album "More" ist damit auch etwas, das Cocker zur nächsten Sitzung beim Therapeuten mitbringen könnte, um die Fortschritte zu ergründen, die er bei der Selbsterforschung gemacht hat.
"More" eignet sich ebenfalls für jene, die noch nie zur Therapie gegangen sind. Auch nach dem fünften, sechsten Hören wird seine Schönheit nicht stumpf. Alle elf Songs sind in unterschiedlicher Abstufung toll; je nach Laune reißt mal Lied vier ("Slow Jam") am stärksten mit, mal Lied zehn ("The Hymn of the North"). Es ist schon lange nicht mehr 1995 – im Gegensatz zu Oasis, die bald wieder "Wonderwall" in ausverkauften Stadien singen werden, wissen die Musiker von Pulp das. Wir werden nicht mehr 20 sein. Denen, die damals dabei waren, sei aber verraten: Alles unter dem Himmel hat seine Stunde, manchmal, siehe "More", auch eine zweite.
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