Inhalt des Artikels:
- "Terroristen" und "Farbrevolution"
- Das Märchen von "eifersüchtigen" und "finsteren Mächten"
- Proteste und Hausarrest
- Die Justiz kämpft um Ihre Unabhängigkeit
- Eine umstrittene Tonaufnahme
- Eine wacklige Anklage und viel Solidarität
Es waren Stunden voller Sorge für die Angehörigen von Marija Vasić: "Ich weiß nicht einmal, ob meine Mutter noch am Leben ist", sagte Milan Čanak Mitte Mai. Seine Mutter war am 13. Mai nach zwei Monaten Untersuchungshaft in Hunger- und Durststreik getreten. Sie protestierte damit gegen ihre Verhaftung und ihre fortgesetzte – in ihren Augen illegale – Untersuchungshaft. Nach knapp drei Tagen kollabierte sie und wurde ins Gefängniskrankenhaus in Belgrad transportiert. Weder die Familie, noch ihr Anwalt durften sie besuchen. Inzwischen ist Vasić wohlauf und in den Hausarrest entlassen worden.
Die Gymnasial-Lehrerin aus Novi Sad und fünf weitere Aktivisten der informellen Studenten-Gruppe Stav sowie Mitglieder der oppositionellen Partei Bewegung freier Bürger (PSG) wurden am 14. März festgenommen und angeklagt, sechs weitere Aktivisten werden per Haftbefehl gesucht. Der Vorwurf: Vorbereitung eines Anschlags auf die Verfassungsordnung und Sicherheit der Republik Serbien und der Anstiftung zur gewaltsamen Veränderung der Verfassungsordnung.

Doch die Anklage steht auf tönernen Füßen: Bis auf eine nicht sehr aussagekräftige Tonaufzeichnung, die womöglich illegal erstellt wurde, hat die Staatsanwaltschaft keine Beweise gegen die Gruppe vorgelegt. Kritiker sind daher überzeugt davon, dass die Verhaftungen Teil einer Strategie sind, die Opposition, und vor allem rebellierende Studenten, einzuschüchtern und mundtot zu machen.
"Terroristen" und "Farbrevolution"
Die Verhaftungen gehen einher mit einer deutlich verschärften Rhetorik der Regierung gegen die Studentenproteste gegen die Korruption, die bereits seit Monaten andauern und bei denen fast ganz Serbien auf den Beinen ist. Serbiens Staatspräsident Aleksandar Vučić bezeichnet die politischen Aktivisten seit den Festnahmen immer wieder faktenwidrig als "Terroristen", die im Auftrag ausländischer Geheimdienste einen Umsturz in Serbien vorbereiten würden. Allerdings wurde keinem von ihnen irgendein Verbrechen nachgewiesen.

Nahezu täglich spricht der Präsident davon, dass in Serbien eine "Farbrevolution" stattfinde. Dieser Begriff bezieht sich auf eine Reihe von Regimewechseln, die Anfang der 2000er Jahre durch die Ausübung von zivilem Widerstand herbeigeführt wurden, etwa die Orangene Revolution in der Ukraine 2004 oder die Rosenrevolution in Georgien 2003. In Teilen der serbischen Öffentlichkeit sind diese vom Westen mindestens ideell unterstützen Farbrevolutionen negativ konnotiert und werden als unzulässige Einmischung ausländischer Mächte in die Innenpolitik Serbiens gewertet. Der Vergleich hinkt aber: Denn die serbischen Studierenden erhalten keine nennenswerte Unterstützung aus dem Ausland.
Über diese angebliche Farbrevolution in Serbien beklagte sich Vučić in Moskau bei Putin, als er am 9. Mai an der Militärparade am Siegestag teilnahm. Im Inland hingegen verstieg er sich zu der Behauptung, er habe die Farbrevolution bereits erfolgreich bekämpft und werde einen globalen Bestseller darüber schreiben.

Auch Patriarch Porfirije, das Oberhaupt der serbisch-orthodoxen Kirche, griff das Narrativ von der Einmischung aus dem Ausland auf und klagte öffentlich über vermeintlich farbrevolutionäre Bestrebungen.
Das Märchen von "eifersüchtigen" und "finsteren Mächten"
Die Minister und die regierungsnahen serbischen Medien wiederholen täglich, was der Staatspräsident ohne jegliche Faktengrundlage über den vermeintlichen "aus dem feindlichen Ausland organisierten und finanzierten versuchten Staatsstreich" sagt.

Warum die finsteren Mächte es denn auf Serbien abgesehen hätten? Weil sie, und Serbiens Nachbarstaaten, eifersüchtig seien auf seine unglaublichen wirtschaftlichen und sonstigen Erfolge und weil die freiheitsliebenden Serben unter der weisen Führung von Vučić ihr Haupt vor den Forderungen der Weltmächte nicht beugen wollten.
Weil sich das wie ein Witz oder eine Parodie anhört, muss man unterstreichen: Das wird den Serben durch den Präsidenten, die Regierung und die Serbischen Fortschritspartei (SNS) buchstäblich so dargelegt. Russland, Weißrussland, Ungarn oder China gehören in dieser Erzählung natürlich nicht zu den Bösen dieser Welt.
Proteste und Hausarrest
In der Realität ist "Terroristin" Marija Vasić Lehrerin und darüber hinaus eine in Novi Sad bekannte Aktivistin und Antifaschistin, die historische Bücher schreibt: Eines über den Holocaust und eins über die "Razzia in Novi Sad", ein Ende Januar 1942 von der ungarischen Besatzungsmacht begangenes Massaker bei dem 1246 Menschen, vorwiegend Juden und Serben, getötet wurden.

In Folge ihres Hunger- und Durststreikes intensivierten sich die Proteste für ihre Freilassung und die ihrer fünf Mitgefangenen: Studenten und Bürger blockierten das Kreisgericht in Novi Sad. Deshalb, wegen des lauten Aufschreis eines Teils der Öffentlichkeit und weil das Europaparlament sich besorgt wegen des Gesundheitszustands von Vasic äußerte, ordnete kurze Zeit später das Gericht für die Professorin und zwei ihrer Mitstreiter Hausarrest an. Mittlerweile sind nun auch die drei anderen aus der Haft entlassen und in den Hausarrest überführt worden.
Die Justiz kämpft um Ihre Unabhängigkeit
Diese Entscheidung kam beim Präsidenten nicht gut an: Teile der Justiz seien auch in die "Farbrevolution" eingespannt oder hätten "dem Druck der Straße nachgegeben", donnerte Vučić darauf empört. Er würde alle Staatsanwälte und Richter ablösen, die die Gesetze und die Verfassungsordnung nicht verteidigten, warnte er zuvor, unzufrieden wie "mild" die Justiz gegen rebellierende Studenten vorgehe.
Daraufhin unterzeichneten fast 600 Richter und Staatsanwälte eine Petition in der es heißt: Es sei allerhöchste Zeit, dass Richter und Staatsanwälte, die bisher stillschweigend die Unterwerfung der Justiz beobachtet hätten, ihre Stimme erheben und sich widersetzen.
Eine umstrittene Tonaufnahme
Die Vorwürfe gegen Vasić und ihrer Mitstreiter drehen sich um ein Planungstreffen für die Großdemonstration, die am 15. März in Belgrad stattfand. Von diesem Vorbereitungstreffen von zwölf Personen in den Parteiräumen der oppositionellen PSG in Novi Sad existiert eine heimlich erstellte Tonaufzeichnung. In der zwei Stunden dauernden Unterredung sprechen die Teilnehmer – unter ihnen auch Vasić – über allerlei Organisatorisches.

Diskutiert wurde in dem Gespräch, das eher nach Stammtischgerede als nach konspirativer Planung klingt, aber auch die Frage, ob und wie die Proteste in einen gewaltsamen Aufstand gegen die Regierung verwandelt werden könnten – nur, um die Idee gleich wieder zu verwerfen. Die Protestierenden, so das Fazit der Runde, seien friedlich und würden Gewalt nicht mittragen. Auch die Idee, das Staatsfernsehen zu besetzen kam auf – und versandete gleich wieder.
Dieser Mitschnitt wurde von mehreren regierungsnahen Medien veröffentlicht. Er gilt dem Regierungslager als Beweis dafür, dass es sich bei Studentenprotesten um eine "Farbrevolution" handelt, dass hinter ihnen eigentlich "Terroristen" steckten. Einer der Protagonisten hätte Gewissensbisse bekommen, hieß es, das Gespräch heimlich aufgezeichnet und dann den Medien zugespielt.
Eine wacklige Anklage und viel Solidarität
Ob ein solches Gespräch eine Anklage wegen eines "versuchten Anschlages auf die Verfassungsordnung" rechtfertigt, ist indes umstritten. Zudem behaupten die Anwälte der Beschuldigten, der serbische Geheimdienst BIA hätte das Gespräch gesetzwidrig, ohne Verordnung eines Gerichts abgehört. Alleine deshalb sei die Anklage hinfällig und alle Angeklagten müssten sofort aus der Haft entlassen werden. Denn andere Beweise hat die Staatsanwaltschaft nicht vorgelegt.

Die Opposition ist daher felsenfest davon überzeugt, dass die Anklage gegen die Aktivisten vor allem dazu dient, ein Exempel zu statuieren und die Proteste zu delegitimieren. Die Schüler von Marija Vasić haben sich derweil mit ihrer Lehrerin solidarisiert und schrieben in einem offenen Brief: "Den Soziologiestoff werden wir vielleicht vergessen, aber nie, dass sie uns an ihrem eigenen Beispiel gezeigt hat, was Tapferkeit, Kampflust und Ausdauer heisst. Jetzt geben wir Noten: Sie bekommt eine glatte Eins mit ehrlicher Bewunderung".
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