Frankreichs Premier Bayrou stellt heute die Vertrauensfrage. Sollte er scheitern, muss Präsident Macron wieder einen Premier suchen. Oder kommt es zu Neuwahlen? Politische Stabilität sieht jedenfalls anders aus.
Der festgefahrene Streit um den Sparhaushalt ist nicht der Grund für die aktuelle politische Krise. Er ist nur das Symptom einer Malaise, unter der Frankreich schon länger leidet. Diese Malaise heißt Spaltung und sie hat drei Ursachen. Die erste: das politische System. Die zweite: die politische Kultur. Und die dritte ist Emmanuel Macron selbst. Alle drei bedingen und verschärfen sich gegenseitig.
Politikwissenschaftler Bastien Francois von der Universität Sorbonne in Paris bringt die Absurdität der Lage, in der sich Frankreich seit den Neuwahlen im Juli 2024 befindet, auf den Punkt. "Seit einem Jahr ernennt Präsident Macron Premierminister, die in ihrem eigenen Lager keinen großen Rückhalt genießen und die kein Programm haben. Unsere Regierungen haben kein Programm! Das ist doch faszinierend."
Macron hat sich verzockt
Seit das Regierungslager um Macrons Partei Renaissance seine Mehrheit verloren hat, ist die französische Demokratie aus dem Tritt. Der Präsident hat sich verzockt.
Mit der Hals über Kopf beschlossenen Parlamentsauflösung und den sich anschließenden Neuwahlen wollte Macron im Sommer 2024 sein eigenes Lager stärken, Klarheit schaffen - angesichts des Höhenflugs des rechtsnationalen Rassemblement National, der gerade bei den Europawahlen einen immensen Erfolg eingefahren hatte. Doch dieser bis heute unverständliche Schachzug ging nach hinten los: Die ohnehin dünne Mehrheit ist perdu.
In dem ganz auf eine absolute Mehrheit ausgerichteten politischen System der Nachkriegszeit ist der französische Premier normalerweise wenig mehr als das ausführende Organ des direkt vom Volk gewählten Präsidenten. Seit den Neuwahlen 2024 aber musste der Regierungschef - erst Michel Barnier und nach dessen Scheitern Francois Bayrou - plötzlich Mehrheiten suchen, um seine Politik umsetzen zu können. Ein schier unmögliches Unterfangen, denn das Konzept der Regierungskoalition wurde in der präsidialen Demokratie der Fünften Republik nie erprobt, beklagt Politologe Bastien Francois: "Die Fünfte Republik ist eine Maschine, die ihre Bürger betrügt. Sie produziert Frust und Misstrauen."
Wahlrecht führt zu Politikverdrossenheit
Und das hat maßgeblich mit dem Wahlrecht zu tun. In Frankreich gilt das Mehrheitswahlrecht. Für den einzelnen Wahlkreis heißt das: Der Gewinner bekommt alles. Alle anderen Stimmen fallen unter den Tisch. Das erzeugt Politikverdrossenheit bei den Bürgerinnen und Bürgern.
Und die Kandidaten der Parteien geben im Rennen um den ersten Platz vor, ihr Programm 1:1 umsetzen zu können. Ein Verhältniswahlrecht wie in Deutschland würde den Wählerwillen im Parlament wahrhaftiger abbilden und die Parteien zur Zusammenarbeit zwingen, ist Politologe Francois überzeugt.
Um aus der Sackgasse zu kommen, in der sich die Republik derzeit befinde, gebe es keine andere Möglichkeit, als das Wahlrecht zu ändern: "Wenn wir anfangen wollen, das politische System zu erneuern, ihm Vertrauen und Legitimität zurückzugeben, dafür zu sorgen, dass es wieder in der Lage ist, die Gesellschaft zusammenzuführen, müssen wir dahin kommen, dass die Parteien Koalitionen eingehen; und zwar Koalitionen, die sich ein gemeinsames Programm geben."
Doch der Kompromiss steht in Frankreich stets unter Verdacht, faul zu sein. Diese politische Kultur gepaart mit dem politischen System der präsidialen Fünften Republik lähmen Frankreich zunehmend.
Macron trägt Mitschuld an Rechtsruck
Aber auch Präsident Macron hat zur Blockade der drei großen Lager im Parlament beigetragen. Hier stehen sich seit letztem Sommer die extreme Rechte, das wacklige Linksbündnis und das Regierungslager unversöhnlich gegenüber. Mit seiner Maxime des "en même temps" - also gleichzeitig linke und rechte Positionen in der Mitte zu vereinen - hat Emmanuel Macron linke und rechte Konkurrenzparteien zunehmend versucht zu delegitimieren. Nach der Devise: Alles, was nicht zur Mitte gehört, ist extremistisch.
Zwar ist der Rassemblement National um Fraktionschefin Marine Le Pen Macrons erklärter Feind. Doch schlecht behandelt hat Macron die Linke. Ihr Bündnis aus Sozialisten, Grünen, Linkspartei LFI und Kommunisten erzielte nach den Neuwahlen im vergangenen Jahr überraschend die meisten Sitze. Doch Macron ernannte gegen die politischen Gepflogenheiten zweimal in Folge einen Premier aus dem konservativen Lager. Seine so entstandene Mitte-Rechts-Regierung wurde von der Duldung des Rassemblement National abhängig.
Sind Neuwahlen die Lösung?
Macron hat also den Rechtsruck in Frankreich mit befördert, den Graben zur gemäßigten Linken wie den Sozialisten vertieft und gleichzeitig dem linksradikalen Wortführer Jean-Luc Melenchon von LFI Zündstoff für dessen Strategie geliefert, jedes gesellschaftliche Thema zu "konfliktualisieren". Zwischen den politischen Lagern herrschen Misstrauen und Missgunst. Wären also abermalige Neuwahlen der beste Weg aus der Sackgasse? Politologe Francois meint:
Denn die Umfragen sagen voraus, dass die Dreiteilung des Parlaments erhalten bliebe. Die besten Chancen auf eine Mehrheit hätte der rechtsnationale Rassemblement National.
Was wird Präsident Macron also tun? Seinen Rücktritt hat er ausgeschlossen. Aus Elysee-Kreisen heißt es, dass er rasch einen neuen Premier benennen will; wieder ohne Programm, dafür aber vielleicht diesmal aus dem Lager der Linken? Möglich wäre es, jedoch keineswegs sicher. Denn der "Hyper-Präsident", der einen Hang zur vertikalen Amtsausführung hat, müsste unter einer links geführten Regierung aller Voraussicht nach Steuererhöhungen hinnehmen; für Macron ein rotes Tuch. Wen auch immer er zum neuen Premier ernennt: Der oder die Neue müsste die Zauberformel für einen mehrheitsfähigen Sparhaushalt finden, damit die politische Krise nicht zu einer ökonomischen Krise wird.
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