Warum eskalieren die Proteste in Serbien derzeit und münden in Gewalt?
Andrej Ivanji: Die serbische Autokratie beruht auf Angst vor dem Regime und der Verherrlichung von Staatspräsident Alexander Vučić. Praktisch regiert im Land die serbische Fortschrittspartei (SNS). Doch diese Proteste, die jetzt schon zehn Monate dauern, nehmen der Bevölkerung die Angst, gegen Missstände auf die Straße zu gehen und sich Gehör zu verschaffen.
Deshalb konnte man Mitte vergangener Woche in zwei Provinzstädten in der Vojvodina eine neue Taktik der Regierung sehen. Vor den Parteiräumen der SNS versammelten sich "Parteiaktivisten" – große, über 100 Kilo schwere Männer, meist kahlköpfig, oft auch vermummt. Als die Demonstranten vorbeigingen, begannen diese SNS-Aktivisten, die Demonstranten über die Köpfe der Polizei hinweg mit Flaschen und einem unglaublichen Arsenal an Feuerwerkskörpern zu bewerfen. So entstand eine kleine Straßenschlacht.
Dieses Szenario wiederholte sich in den folgenden Tagen in vielen Städten Serbiens – nur waren die Demonstranten dann schon vorbereitet. Sie widersetzten sich, auch mit Pyrotechnik und Steinen. Und so gab es auf den Straßen Serbiens sehr gewalttätige Szenen, die mehrere Tage lang andauerten.
Wurden also auch vonseiten der Studierenden Büros der Regierungspartei SNS angegriffen?
Ja. Die regierende Partei SNS ist das Zentrum dessen, wogegen man protestiert. Nämlich gegen einen korrupten Staat, in dem Gesetze nicht gelten. Deshalb griffen sie dann auch die Parteiräume der SNS an. Natürlich kann man Gewalt nicht rechtfertigen, aber ich würde sagen, was wir hier sehen, ist eine Wut, die aus Ohnmacht entsteht, weil sich absolut nichts bewegt.
Seit zehn Monaten sind die Demonstrierenden auf der Straße und fordern seit mehreren Monaten als Ausweg aus der politischen Krise vorgezogene Parlamentswahlen. Doch Staatspräsident Vučić will sie nicht ausrufen. Dazu kommen diese Partei-Schlägertrupps, die gegen die Bürger eingesetzt werden – und die Polizei schaut zu. Und da wächst natürlich die Wut und dann entstehen solche Szenen.
Sie haben gesagt, die Polizei schaut zu. Wie verhalten sich die Beamten konkret?
Ich kann eine Szene aus Belgrad schildern, bei der ich persönlich vor Ort war: Eine Kreuzung im Stadtzentrum, auf der einen Seite stehen die Demonstranten, vor ihnen eine Reihe Polizeibeamter in voller Ausrüstung. Dahinter die "Aktivisten" der regierenden Partei. Und auf einmal laufen diese Leute richtig Sturm auf die Demonstranten. Die Polizei zieht sich zurück und die Parteitrupps schlagen mit Schlagstöcken ungehindert auf die Demonstranten ein.

Die schlagen dann zurück, woraufhin eine Massenpanik entsteht. Die Demonstranten rennen weg, und dann beginnt die Polizei, die Demonstranten wie die Hasen auf den Straßen zu jagen und zu verhaften. Diese Art des Zusammenspiels zwischen der Polizei und Schläger-Trupps kann man täglich beobachten.
Und wie positioniert sich die Staatsführung öffentlich zu dieser Situation?
Die Staatsführung verneint das und behauptet, die Polizei hätte sich wunderbar verhalten, keine Polizei der Welt hätte so viel Geduld und Toleranz gezeigt. Das ist ziemlich lächerlich, weil das alles wirklich hundertfach dokumentiert ist, durch Zeugenaussagen, Videos und Fotos. Szenen, wie junge Menschen einfach auf der Straße stehen. Da kommen die Polizisten, prügeln auf sie ein, die Leute fallen hin oder sie wehren sich oder sie fluchen. Wenn sie versuchen sich zu wehren, wird sofort Anklage wegen Angriffs auf Polizisten erhoben, und dafür sind Haftstrafen vorgesehen. Das ist das Prinzip.
Das Regime behauptet, die Demonstranten seien "Terroristen", die aus dem Westen – etwa aus Deutschland oder Großbritannien – bezahlt würden, um den Staatspräsidenten Alexandar Vučić zu stürzen. Das wird jeden Tag wiederholt.
In Belgrad sind in den Botschaften ja auch Vertreter der EU vor Ort. Wie fallen deren Reaktionen aus?
Zunächst haben sie überhaupt nicht reagiert. Das war sehr, sehr frustrierend für die bürgerlichen Parteien und die Menschen, die im Grunde genommen sehr europäisch orientiert sind.
Erst vor wenigen Tagen hatte sich zum ersten Mal die Bundesregierung mit klaren Worten gemeldet wegen der Polizeigewalt in Serbien. Und inzwischen hat sich auch etwas in den Ländern der Europäischen Union geändert. Nach so vielen Medienberichten über die Brutalität der Polizei und eben diese Methode, mit Partei-Schlägertrupps gegen die Demos vorzugehen, ändert sich die Stimmung in Europa, beginnen einzelne Regierungen, das alles zu kritisieren. Aber von der Europäischen Kommission kam – außer Phrasen, von wegen, alle Seiten sollten sich zurückhalten – gar keine Botschaft.
Sie haben die Medienberichte angesprochen. Wie hat sich denn die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten wie Ihnen durch die Eskalation der Gewalt verändert?
Die hat sich stark verändert. Alle kritischen Medien werden jetzt von der Staatsspitze als "Okkupations-Medienplattformen" bezeichnet. Also: Jeder, der irgendetwas kritisiert, arbeitet für einen ausgedachten, nicht genannten Okkupator. Dementsprechend sind auch Journalisten auf der Straße zu Zielscheiben geworden – das sage ich auch aus persönlicher Erfahrung.

Bei der Szene in Belgrad, die ich eben geschildert habe, waren ungefähr 20 Journalisten anwesend, auch ausländische Journalisten – und ich selbst. Wir waren ganz klar durch gelbe Westen, auf denen "Presse" steht, gekennzeichnet. Als der Schlägertrupp auf die Demonstranten zustürmte, liefen fünf, sechs dieser Leute mit Stangen in den Händen auf uns zu, beschimpften und drohten uns, sie würden uns verprügeln oder gar töten. Das war ein gezielter Angriff, damit keine Bilder in die Welt kommen.
Wie kann das Land nach diesen Angriffen in Zukunft wieder zusammenfinden?
Es entsteht der Eindruck, dass in Serbien eine rote Linie überschritten ist. Es wird sehr, sehr schwierig sein, zwischen dem Regime und den Menschen, die dagegen protestieren, einen Dialog herzustellen. Aber ich glaube nicht, dass alles wieder so werden kann wie früher: Dass Vučić und seine SNS autokratisch über alles herrschen und dass die Bevölkerung das duldet. Ich glaube, wir gehen großen Veränderungen entgegen und man muss befürchten, dass es zu weiteren Gewaltausbrüchen kommt. Die Frage ist auch, wie lang der Atem der Regierungspartei ist. Aber das ist dann wahrscheinlich Stoff für das nächste Gespräch.
MDR (tvm)
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