Berichte sind das Fundament der Klimapolitik

Ohne präzise Daten kaum Fortschritt beim Klimaschutz, sind Forschende überzeugt. "Wenn ein Land oder ein Unternehmen es ernst meint mit dem Klimaschutz, dann bestimmt es seine Emissionen für ein Basisjahr, setzt sich konkrete Ziele, um den Ausstoß zu reduzieren und berichtet später, ob es erfolgreich war", erklärt William Lamb vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.

Doch wie gut sind die Klima-Berichte? "Das aktuelle System der Buchhaltung erzeugt systematische Lücken", schreibt die Rechtswissenschaftlerin Leehi Yona von der Cornell University. Sie veranschaulicht diese Lücken mit dem folgenden Beispiel:

Tagebuch eines Rauchers: Ich rauche nicht mehr

Eine geschenkte Kippe zählt nicht als geraucht? In der internationalen Klimabuchhaltung kommt man mit solchen Tricks durch.Bildrechte: picture alliance / dpa | Julian Stratenschulte

"Stellen Sie sich vor, ein Kettenraucher verspricht seinem Arzt, mit dem Rauchen aufzuhören. Um seinen Fortschritt zu dokumentieren, führt er ein Tagebuch – aber er notiert nur die Zigaretten, die er selbst gekauft hat. Zigaretten von Freunden oder dem Partner lässt er weg. Der Patient könnte seinem Arzt sagen, dass er keine Zigaretten geraucht hat, aber seine Lunge würde etwas anderes sagen. In ähnlicher Weise können Treibhausgase aus den Büchern der Akteure ausgeschlossen werden, aber sie tragen doch zum Klimawandel bei."

Wenn Waldbrände plötzlich unsichtbar werden

Um im Bild zu bleiben: Zigaretten eignen sich hervorragend, um Waldbrände zu entfachen. Wären Waldbrände ein Land, dann würden sie glatt den sechsten Platz der größten Klimatreiber einnehmen.

Fehlen in den Klimabüchern: Waldbrände wie das Mountain Fire in KalifornienBildrechte: picture alliance/dpa/AP | Noah Berger

Kalifornien ist so ein Landstrich, der in jüngerer Zeit häufig gebrannt hat, aber auch ein Land, das als Vorreiter beim Klimaschutz gilt: Viele starke Klimaschutzgesetze stammen aus dem Golden State. Doch die Waldbrände tauchen in den Büchern Kaliforniens nicht auf. Ein Klimavorbild, das hunderte Millionen Tonnen CO₂ einfach ignoriert: Warum?

Die Argumentation geht wie folgt: Waldbrände sind ein natürliches Phänomen, die gab es immer schon. Sollte man sich von denen die Fortschritte beim Klimaschutz (Stromwende in den Autos, Wohnhäusern und Unternehmen) in den Emissionsberichten verkohlen lassen? Ja, sollte man ehrlicherweise, denn häufigste Ursache der Waldbrände sind unsere Zigaretten (im übertragenen Sinne) oder anderes menschliches Fehlverhalten.

Waldbrände befeuern den Klimawandel und werden durch ihn noch stärker und ausdauernder. Kalifornien weigert sich aber, das aufzuschreiben – wie auch Kanada und andere Länder. Dadurch entstehen gewaltige Lücken in den Büchern: Manche Schätzungen sagen etwa für Kanada, dass sich die Emissionen durch die Waldbrände verdoppeln würden.

Auch beim Militär findet sich in den Klimabüchern häufig nichts als eine entscheidende Leerstelle. Dem Klimafaktor Militär geht MDR Wissen-Redakteur Karsten Möbius im Podcast Die großen Fragen in 10 Minuten auf den Grund.

X-Faktor: Die unfassbaren Emissionen

Unternehmen sind nicht unbedingt besser: Mit den so genannten Emissionsfaktoren geben Firmen und Länder an, wie viel CO₂ bei bestimmten Aktivitäten entsteht – etwa beim Kohleabbau, beim Betrieb von Kraftwerken oder bei der Viehhaltung. Es gibt sie für alle Bereiche. Die Rechnung ist mitunter komplex, wenn man Vorketten einbezieht (Wie viel CO₂ hat der Stahl fürs Auto erzeugt? Wie viel die Batterien? Wie viel der Strom für die Herstellung der Batterien?)

Oft handelt es sich um Schätzwerte, manchmal wird gemessen. Firmen und Länder können jedoch selbst entscheiden, ob sie alte, neue oder eigene Zahlen für ihre Tätigkeiten verwenden. Und wie weit sie über die Vorketten berichten. Weltweite Standards fehlen – ein Freibrief für Schönfärberei.

Ähnliche Lücken gibt es bei Investitionen: Wenn etwa ein Unternehmen nur Minderheitsanteile an einer Öl-Förderplattform besitzt, muss es die anteiligen Emissionen, die durch sein Geld im Bohrturm ausgestoßen werden, nicht deklarieren.

Zeit ist Klima: Die unterschiedlichen Effekte der Gase

Überschüssiges Gas wird verbrannt und Methan freigesetzt. In den Berichten bleibt es oft aber unsichtbar.Bildrechte: picture alliance/dpa | Stringer

Ein weiterer Trick betrifft die Bewertung von Treibhausgasen. Wie verändert ausgestoßenes CO₂ die Atmsophäre in den nächsten 100 Jahren? Das ist das Maß aller Dinge, alle anderen Treibhausgase werden daran abgeglichen. Methan ist das zweitwichtigste Klimagas, verhält sich aber anders in der Atmosphäre: Über einen Zeitraum von 100 Jahren wirkt es 20-mal so stark wie CO₂. In den nächsten 20 Jahren dagegen wirkt es sogar etwa 84-mal stärker. Der Grund: Methan bleibt anders als CO2 keine 100 Jahre in der Atmsophäre, sondern löst sich viel schneller auf. Es wirkt nur kurz, aber heftig:

Ein schneller Klimatreiber und ein Hebel für schnellen Klimaschutz. Die wissenschaftliche Gemeinschaft neigt daher auch zum 84-fachen Wert. Länder und Unternehmen können aber frei wählen, welches Maß sie ansetzen. Eine aktuelle Studie zeigt, was das bedeutet: Um 3,3 Milliarden Tonnen höher ist der Ausstoß von Unternehmen weltweit, wenn man den Methan-Effekt für 20 Jahre Laufzeit annimmt. Das sind die jährlichen Emissionen der EU.

Blick aus dem Orbit: Sie rauchen ja doch!

Doch die fehlenden Emissionen bleiben nicht länger unentdeckt: Möglich machen das Plattformen wie Climate Trace: Die „Klima-Spur“ bündelt die Daten von hunderten Satelliten und tausenden Sensoren weltweit. Mithilfe künstlicher Intelligenz ordnen Forschende die Emissionen den jeweiligen Quellen zu:

Gut was los bei uns: Jeder bunte Kreis ist die Quelle von wahrnehmbaren Emissionen.Bildrechte: Climate Trace

So können sie den Ausstoß einzelner Gas-Bohrtürme, Kohlekraftwerke oder Zementfabriken aufspüren. Sogar die Emissionen von Frachtschiffen auf dem Meer und dem Luftverkehr an Flughäfen können sie so ermitteln. Daten – beinahe in Echtzeitqualität. Die Emissionen von 660 Millionen Anlagen sind öffentlich einsehbar.

In einer aktuellen Studie hat der Nachhaltigkeitsforscher Marc Lepere vom King's College London die offiziellen Daten von fast 300 Unternehmen mit Climate Trace verglichen. Vor allem Unternehmen aus dem Öl- und Gassektor weisen ihre Emissionen deutlich zu niedrig aus: Gase, die beim Abfackeln von überschüssigem Gas entstehen oder aus maroden Leitungen entweichen, werden gerne unterschlagen.

Climate Trace deckt diese Leaks und Löcher auf: Die Emissionen der fossilen Firmen sind demnach oft doppelt oder dreimal so hoch wie die Zahlen in den Berichten. Vergleicht man die Daten von Climate Trace mit den offiziellen Büchern, finden sich in vielen Ländern und Unternehmen heimliche Raucher.

Ins Verhältnis gesetzt heißt das: Deutschland hat sich um 17 Millionen Tonnen verrechnet, China um 2,4 Milliarden.Bildrechte: MDR

Auf den Spuren einer besseren Klima-Buchhaltung

Wenn scheinbar alle schummeln, was heißt das für die globalen Emissionen? "Das weltweite Bild ist mehr oder weniger korrekt", sagt William Lamb vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. 42 Milliarden Tonnen CO₂ plus minus, dazu knapp 380 Millionen Tonnen Methan – so hoch waren die globalen Emissionen im vergangenen Jahr. Lamb ergänzt: "Auch wenn Länder nicht richtig berichten, haben wir dennoch genug aussagekräftige Daten".

Projekte wie das Global Carbon Budget und das Global Methane Budget nutzen verschiedene Quellen, um ein umfassendes Bild zu zeichnen. Bislang mangelt es aber an der klaren Zuordnung und Unsicherheiten bleiben bestehen. Unsicherheiten, die durch glaubwürdigere Berichte und bessere Kontrolle verringert werden können:

Plattformen wie Climate Trace setzen genau da an. Wenn man Emissionen den genauen Quellen zuordnet, kann sich keiner mehr verstecken. Wissenschaftler und NGOs fordern, dass Staaten diese modernen Datenquellen als neuen, weltweiten Standard nutzen – sowohl für sich selbst als auch zur Kontrolle von Unternehmen.

Sobald man einen Standard hat, ist keiner mehr gegenüber Anderen im Nachteil.

Marc Lepere, Nachhaltigkeitsforscher am King's College London

Und es gibt Fortschritte: Das Pariser Klimaabkommen verpflichtet fast alle Länder, regelmäßig Emissionsdaten vorzulegen. Bis 2025 sollten sie erstmals liefern – "überraschend viele haben es getan", berichtet Klimaforscher William Lamb. Länder wie Ghana, Kenia oder Namibia haben zum ersten Mal Berichte veröffentlicht.

Schwergewichte wie Indien und China haben ihre Zahlen aktualisiert. Die Berichte der Länder werden langsam vollständiger und auch die Zahl der Unternehmen, die ihre Emissionen veröffentlichen, wächst stetig.

Was verrät also der Blick in die Klimabilanzen? Manche Länder und Unternehmen tricksen bewusst, andere nutzen die laschen Regeln aus. Doch dank Satelliten und KI können Forschende immer genauer nachweisen, wo die Zahlen nicht stimmen und die Raucher heimlich quarzen.

Links/Studien

Die Studie Lack of harmonisation of greenhouse gases reporting standards and the methane emissions gap, von Simone Cenci & Enrifo Biffis erschien am 11. Februar 2025 in Nature Communications.

Die Studie Emissions dissonance: Examining how firm-level under-reporting undermines policy von Marc Lepere wurde im Mai 2025 über die King’s Business School at King’s College London veröffentlicht.

Die Studie How Satellite Data Can Quantify the Real Climate Risk of Oil & Gas Companies wurde vom Start Up Clarity AI im Juli 2024 veröffentlicht.

Die Studie Emissions Omissions von Leehi Yona wurde im Mai 2023 im Harvard Environmental Law Review veröffentlicht.

Die Studie National quantifications of methane emissions from fuel exploitation using high resolution inversions of satellite observations von Lu Shen wurde im August 2023 in Nature Communications veröffentlicht.

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