Der zerstörte Hafen von Beirut steht für das Staatsversagen im Libanon: Bei der Explosion vor fünf Jahren wurden 220 Menschen getötet, aber bis heute wurde niemand zur Verantwortung gezogen. Kann die neue Regierung das ändern?
Betend sitzt Hiyam Al Bikaai am Grab ihres Sohnes. Jeden Tag kommt die Mutter gemeinsam mit ihrem Mann auf den Friedhof im Südosten Beiruts, zündet Weihrauch an und putzt den Staub von der weißen Grabplatte. Um den Hals trägt die schwarzgekleidete Libanesin eine lange goldene Kette mit dem Abbild ihres Sohnes.
"Gegen vier Uhr nachmittags rief mich mein Sohn an und sagte mir, dass er demnächst nach Hause komme", erzählt sie. "Um sieben Minuten nach sechs ereignete sich die Explosion."

Die Explosion und ihre Folgen töteten vor fünf Jahren mehr als 220 Menschen.
Ahmed wollte nur eine Torte ausliefern
Der damals 27-jährige Ahmed war am 4. August 2020 mit seinem Taxi im Viertel Gemmayze unterwegs - rein zufällig. Er sollte dort eine Torte ausliefern. Als er sein Auto parkte, fielen herabstürzende Balkonteile auf den jungen Mann. Kurze Zeit später verstarb er.
In Gemmayze im Osten Beiruts sehen die Bewohner täglich die Folgen der Explosion. Nur eine Schnellstraße trennt das beliebte Ausgehviertel vom Hafen. Die Ruine des Getreidesilos steht dort immer noch - ein Sinnbild für das Versagen des libanesischen Staates.
2.750 Tonnen Ammoniumnitrat detonierten im Hafen. Ein Material, mit dem man Düngemittel, aber auch Sprengstoff produzieren kann.

Die zerstörten Getreidesilos - ein Sinnbild des Staatsversagens
Falsche Lagerung durch Korruption möglich
Bilder der pilzförmigen Rauchwolke von der Explosion gingen um Welt. Untersuchungen zeigten, dass Korruption und schwache Regierungsstrukturen die falsche Lagerung möglich gemacht haben.
Die Folgen: Mehr als 220 Tote, zigtausende Verletzte. Um die 300.000 Menschen verloren ihre Häuser oder Wohnungen. Heute ist vieles wieder aufgebaut. Nicht vom Staat - denn der war schon vor der Explosion bankrott. Sondern mit Hilfe privater Spender.
Chanel Tannous steht im Ladengeschäft eines alten historischen Hauses mit neuer, strahlender Fassade. Angesprochen auf den 4. August vor fünf Jahren zieht sie wortlos ihre bunte Bluse hoch und zeigt ihre lange Narbe am Bauch. Die äußeren Wunden der Explosion sind verheilt. Aber das sei nur die Oberfläche, sagt Tannous.
"Alles, was geschehen ist, war die Folge des völligen Versagens unseres Staates", sagt sie. Was für sie am meisten schmerzt: "Dass man immer noch kämpft, lebt, sich bemüht, arbeitet. Aber niemand steht hinter dir. Kein Staat, der dich stützt."
Verantwortliche bis heute nicht vor Gericht
Bis heute wurde für die Explosion und die Folgen niemand zur Rechenschaft gezogen. Viele Opfer kämpfen dafür, dass die Verantwortlichen vor Gericht kommen. Unterstützt werden sie dabei von Melhem Khalaf, einem libanesischen Rechtsanwalt und Parlamentarier.
In seiner Beiruter Kanzlei stapeln sich Akten auf dem Schreibtisch: "Am 6. August 2020 übernahmen wir diesen Fall - aktuell betreuen wir über 1.200 Familienakten. Wir vertreten diese Klagen und verfolgen den Fall vor Gericht."
Aber eine gründliche juristische Aufarbeitung ist äußert schwierig, berichtet Khalaf. Die Gründe sind vielfältig. Mal steht die libanesische Justiz im Verdacht, mögliche hochrangige Verantwortliche aus Politik und Verwaltung nur zögerlich zu verfolgen. Mal greifen politische Kräfte wie die Schiiten-Partei Hisbollah in den Fall ein und behindern die Arbeit der Justiz.
Die Hisbollah war vor fünf Jahren Teil der Regierung, kontrollierte offenbar den lukrativen Hafenhandel. Unklar ist, ob das explosive Ammoniumnitrat für die mächtige Miliz vorgesehen war.
Satellitenbilder zur Aufklärung nicht freigegeben
Im Libanon denken viele, Israel stecke hinter der Explosion, sagt Khalaf. Augenzeugen berichten, sie hätten Flugobjekte am Himmel gesehen. Für den Rechtsanwalt sind daher Satellitenbilder von dem Tag für die Aufklärung wichtig: "Jeder, der Zugang zu Satellitenbildern hat, sollte diese bereitstellen. Diese Bilder sind nicht im Besitz von kleinen Ländern wie uns, sondern von Großmächten."
Damit meint Khalaf die USA, Großbritannien und Frankreich. Bislang werden die Bilder vom 4. August 2020 nicht freigegeben. Dass der Ermittlungsrichter diese Bilder nicht erhalten habe, werfe viele Fragen auf, so Khalaf. "Warum können wir Satellitenbilder vom 3. und 5. August 2020 haben, aber nicht die Bilder vom 4. August 2020? Das ist schwer zu akzeptieren."
Hoffnungen ruhen auf neuer Regierung
Khalaf hofft, dass die Schuldigen eines Tages verurteilt werden. Er sitzt seit drei Jahren im libanesischen Parlament und setzt auf die seit Anfang des Jahres amtierende Regierung: "Nach der Wahl des derzeitigen libanesischen Präsidenten und der Regierungsbildung hat der Justizminister eine klare Haltung eingenommen und erklärt, dass es keine Behinderung des Gerichtsverfahrens oder der Ermittlungen geben wird."
Ein Knackpunkt: Die Immunität aller Beteiligten muss dafür aufgehoben werden. Der libanesische Politikwissenschaftler und Meinungsforscher Rabieh Haber hat wenig Hoffnung, dass jemals irgendwer zur Verantwortung gezogen wird. Er blickt pessimistisch auf die Entwicklung in seinem Land: Ein Schattenstaat, der Aufklärung der Hafenexplosion verhindere, weil er mitverantwortlich sei - so umschreibt Haber die Hisbollah im Libanon.
Der Schattenstaat rund um die Hisbollah
Für den Politikwissenschaftler scheint klar: Die Hisbollah - oder besser gesagt der Iran, der hinter der schiitischen Miliz steht und sie unterstützt - ist verantwortlich. Und der Schattenstaat im Land funktioniert Habers Meinung nach heute noch genauso effizient wie vor dem Krieg zwischen Israel und der bewaffneten Hisbollah-Miliz. Er glaubt auch nicht, dass deren Kämpfer jemals ihr Waffen niederlegen werden.
Auf dem Friedhof sitzt Ahmeds Mutter im Schatten der hohen Pinienbäume. Unter Tränen erzählt sie, dass sie nicht nur ihren geliebten Sohn verloren hat, sondern den Haupternährer der ganzen Familie. Mit den Taxi-Einnahmen hatte der studierte Betriebswirt seine Eltern und seine Geschwister unterstützt und das restliche Geld gespart. Er träumte, wie viele junge arbeitslose Libanesen und Libanesinnen, davon, wegzugehen und sein von wirtschaftlicher Krise und Korruption gezeichnetes Land hinter sich zu lassen
Ahmeds Eltern werden auch am fünften Jahrestag der Explosion - so wie jedes Jahr - mit vielen anderen auf die Straße gehen. Sie werden Aufklärung verlangen und ihre Wut herausbrüllen.
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