Afghanistans Mädchen dürfen nur sechs Jahre die Schule besuchen. Danach bleiben ihnen nur die Koranschulen. Deren Zahl wächst stetig - doch welche Chancen eröffnen sie den Mädchen?
Die Koranschule Aswatul-Quran in Kabul hat 800 Schüler. Drei Viertel, also 600 davon, sind Mädchen. Sie strömen morgens durch ein hellblaues Metalltor auf den Hof. Ihr Blick fällt zuerst auf ein Plakat mit der strengen Kleiderordnung. Shukria hält sich dran. Sie trägt wie alle eine bodenlange schwarze Abaya mit pinkfarbenem Gesichtsschleier.
"Ich danke dem Direktor, dass er die Türen für uns geöffnet hat. Ich habe zwei Jahre ohne Bildung zu Hause gesessen, da bekommt man mentale Probleme", sagt die 17-Jährige der ARD. Ihr Direktor habe nach der zwölften Klasse Zeugnisse versprochen, einem Schulabschluss äquivalent.
Shukria wollte Jura studieren. Aber als Muslim sollte man ja zuerst den Islam und dann modernes Wissen studieren, findet sie. Also fange sie mit der Scharia an, sei aber froh, in der Medrese lernen zu dürfen.
Koranverse im Klassenraum
Im Klassenraum sind die Wände voller Koranverse. Die jungen Frauen kauern auf einem geblümten Teppich vor roten Plastikhockern, die nicht für alle reichen. Sie dienen als Tisch. Darauf schreiben alle fleißig mit.
Moqadasa, 18 Jahre alt, kommt seit drei Monaten her. "Ich wollte Ärztin werden. Diese Hoffnung habe ich noch. In der Medrese fühle ich nicht mehr, dass Schulen für Mädchen eigentlich verboten sind. So träume ich weiter, eines Tages Doktor zu sein."

Moqadasa hat eine genaue Vorstellung von ihrer Zukunft. Aber im Bildungssystem der Taliban gibt es nur stark eingeschränkte Möglichkeiten für Mädchen und Frauen.
Welche Bildung reicht?
Jungs sind nicht in Sicht, die sind erst nachmittags dran. Auch von der Lehrerin sieht man kaum etwas - aus einem anderem Grund. Sie ist vollverschleiert in Pechschwarz, nur zwei bis drei Jahre älter als ihre Schülerinnen und heißt Rabia. Ihre Fächer aber sind modern.
Rabia unterrichtet Computerkenntnisse und Englisch. "Bildung ist wichtig für Mädchen, denn sie werden in unserer Gesellschaft Mütter sein", sagt sie. In der Koranschule würden die Mädchen "in islamischer Atmosphäre Religion und Wissenschaft" lernen. Damit würden auch "die Wurzeln der Wissenschaft im Koran" vermittelt. "Diese Studien reichen für die Mädchen", befindet die Lehrerin.
Sie bestätigt jedoch ein Vakuum, eine riesige Bildungslücke für die Mädchen. Die könnte mit dem Koranschulen-Abschluss ein Stück weit geschlossen werden und sie dazu befähigen, durchaus Eignungsprüfungen an einer Uni zu bestehen. Nur sind Mädchen bislang grundsätzlich aus Hochschulen verbannt.
Die Lehrerin beschwichtigt und wird dann doch mutig: "Was das Islamische Emirat anordnet, sollten wir akzeptieren. Aber es sollte die Schultüren für Mädchen öffnen. Das wäre gut für Regierung und Volk."
Mehr als nur die reine Lehre
Die Vorzeige-Medrese gibt es seit zwei Jahren. Auch Mathematik und afghanische Geschichte stehen auf dem Lehrplan.
Sie ist die erste in Kabul, die den Mädchen mehr bietet als Koran, Scharia und Arabisch, mehr als Instruktionen über häusliche Pflichten, Gehorsamkeit in der Ehe und Erziehung von Mudschahed-Kindern, heiligen Kriegern.
Die Mädchen danken es vor der Kamera der ARD mit teils identischen Lobeshymnen.

Seit sie 2021 an die Macht kamen, haben die Taliban Frauen und Mädchen nach und nach aus Schulen und Hochschulen verdrängt. Eine Lehrerin sagt dennoch, das Angebot der Koranschulen reiche.
Koranschulen boomen
Taliban-Tugendminister Khalid Hanafi will die Medresen aufwerten: "Absolventen der Universität Kabul, Ärzte, Ingenieure und andere Spezialisten sollten nicht auf einen Absolventen herabschauen, der eine Medrese abgeschlossen hat. Und Studenten Islamischer Seminare sollten nicht auf jene mit Hochschulbildung herabschauen."
Seit der Taliban-Machtübernahme hat sich die Zahl der Koranschulen vervierfacht, auf mehr als 20.000. Damit gibt es in Afghanistan nun mehr religiöse als weltliche Schulen.
Allein im vergangenen Schuljahr seien rund eine Million Kinder in Medresen angemeldet worden, so Afghanistans Vize-Bildungsminister Karamatullah Akhundzada im September 2024. Das macht insgesamt mehr als 3,5 Millionen Lernende. An mancher Medrese sind es zu 90 Prozent Mädchen.
In den Provinzen scheinen sich die Verwaltungschefs einen regelrechten Wettbewerb zu liefern, wer die meisten Medresen baut - auch zum Erhalt der eigenen, lokalen Macht. Denn die Jungs werden dort zu fundamentalistischen Rekruten erzogen, das sagen zumindest Beobachter.
Viele Mädchen nur mit Grundkenntnissen
Die Exekutivdirektorin des Kinderhilfswerks UNICEF, Catherine Russell, macht indes eine andere Rechnung auf: Bestehe der Oberschulbann bis 2030 weiter, hätten mehr als vier Millionen afghanische Mädchen nur Basiswissen. Das hätte verheerenden Folgen für Afghanistans Zukunft.
Im privaten Kabuler TV-Sender Tolonews gab es zum Jahreswechsel eine Sendung zur "Lage der Frau" am Hindukusch. Najmul Sama Shafajo, Präsidentin der afghanischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie, fand dort klare Worte über die Folgen der Bildungspolitik. "Es ist eine Herausforderung für die Frauen. Sie haben keinen Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung. Das wirkt sich auf die hohe Müttersterblichkeit aus."
Die liege, so die Gynäkologin, im Vergleich zu Bangladesch vier Mal und zu Indien sechs Mal höher. Wenn die Regierung auf dem Hijab, also der Trennung von Mann und Frau, bestehe, solle sie daran denken, dass eine Frau zu einer Ärztin gehen muss, nicht zu einem Arzt. Doch die Studienbeschränkungen führen zu einem Mangel an Ärztinnen.

Mittags verlassen die Mädchen die Koranschule - am Nachmittag werden dann die Jungen unterrichtet.
Segen oder Fluch?
Auch Anisa, 18, will genau das: Ärztin werden. Doch mit den Taliban habe sich alles geändert. Ihre Augen gucken entschlossen über eine Mund-Nase-Maske. Sie klammert sich an ihren letzten Strohhalm, ihre Medrese.
"Wir sind sehr glücklich, weil wir hier weiter lernen können. Ich hoffe, es werden noch mehr gute Dinge in Afghanistan geschehen. Denn viele Mädchen haben ihre Hoffnung verloren. Nun hoffen wir auf neue Koranschulen."
Doch welche Zukunft die Medresen den wissbegierigen Mädchen verheißen, steht auf einem anderen Blatt.
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