Inhalt des Artikels:

  • Horrorheime erschüttern Bulgarien
  • Alte Eltern ins Heim geben?
  • Altenpflege: eine Frage des Geldes
  • Knappes Angebot an Pflegeheimen
  • (K)ein Ausweg: private Pflegekraft
  • Ungerechte Geschlechterrollen

Horrorheime erschüttern Bulgarien

Eine Schockwelle ging durch Bulgarien, als die Polizei im Juni 75 Seniorinnen und Senioren aus zwei illegal betriebenen Pflegeheimen befreite. Sie lebten dort unter katastrophalen Bedingungen und wurden teilweise misshandelt. Justizminister Georgi Georgiew sprach von "Horrorhäusern", in denen pflegebedürftige Menschen an den Füßen gefesselt mit Betäubungsmitteln ruhiggestellt worden seien. Wie die Ermittlungen zeigten, hatten die Betreiber der vermeintlichen Altersheime die Zimmer als einfache Mietwohnungen deklariert, um so der Kontrolle durch die Gesundheitsbehörden zu entgehen. Die Enthüllung der Missstände löste eine landesweite Debatte über ein drängendes Problem in der alternden bulgarischen Gesellschaft aus: Was tun, wenn die eigenen Eltern pflegebedürftig werden?

Alte Eltern ins Heim geben?

Diese Frage stellt sich in Bulgarien erst seit vergleichsweise kurzer Zeit. Noch bis vor wenigen Jahren war es selbstverständlich, dass alte Eltern bei Bedarf zu Hause gepflegt werden. "Dieses Pflichtbewusstsein, dass Kinder ihre Eltern versorgen, ist tief in der Mentalität der Bulgaren verwurzelt", erklärt die Ethnologin Anelia Miluschewa von der Universität Sofia.

Dieses Pflichtgefühl treibt auch den 66-jährigen Martin Denew. Seit einem Jahr selbst Rentner, pflegt er seine 91-jährigen Eltern: Der Vater ist seit vielen Jahren blind und seit drei Jahren dement, die Mutter nach einem Oberschenkelbruch bettlägerig. Eine pensionierte Krankenschwester unterstützt Denew bei der Pflege, doch seine tägliche Hilfe ist unverzichtbar. Als Einzelkind übernimmt er die Einkäufe, erledigt kleinere Reparaturen in der Wohnung der Eltern, kocht und kümmert sich vor allem um die Arzttermine. "Man glaubt nicht, wie viel Papierkram das alles verursacht", sagt er resigniert.

Um für seine Eltern da zu sein, stellt er sein eigenes Leben hinten an: "Ich schränke die Zeit für mich und meine Familie stark ein. An längere Urlaubsreisen ist derzeit nicht zu denken – obwohl ich der Pflegerin vollkommen vertraue." Als bei seinem Vater die Alzheimer-Diagnose gestellt wurde, war es für ihn selbstverständlich, dass der Vater zu Hause bleibt. Der Gedanke, ihn in ein Heim zu geben, belastete Denew lange – auch psychisch. Heute denkt er anders.

Altenpflege: eine Frage des Geldes

Inzwischen ist Martin Denew überzeugt: Die Pflege zu Hause kostet zu viel Kraft – körperlich wie seelisch. Und sie ist teuer. Doch meist gibt es dazu keine Alternative: "Die Chance, einen Platz in einem staatlichen Heim zu bekommen, ist kleiner als die Chance auf einen Lottogewinn", sagt er. "Gleichzeitig können sich 99 Prozent der Bulgaren ein privates Pflegeheim schlicht nicht leisten. Die monatlichen Kosten übersteigen den Durchschnittslohn um das Zwei- bis Dreifache." Nach den Enthüllungen über die Horrorheime sei die Wahl oft nur noch die zwischen Pest und Cholera: "Wenn man sich ein Heim leisten kann, dann ist es womöglich eines dieser Heime, von denen wir gerade erfahren haben."

Knappes Angebot an Pflegeheimen

Erschwingliche Alten- und Pflegeheime sind in Bulgarien Mangelware. Aktuell gibt es 82 staatlich finanzierte Einrichtungen und rund 1.000 privat betriebene. Ihre Finanzierung ist nicht klar geregelt – eine Pflegeversicherung wie in Deutschland existiert nicht. Die ohnehin stark belasteten Krankenkassen übernehmen keine Pflegekosten. Die meisten Pflegeeinrichtungen sind deshalb auf private Träger angewiesen. Entsprechend hoch sind auch die Kosten: etwa 800 Euro monatlich – bei einer Durchschnittsrente von rund 500 Euro und einem durchschnittlichen Gehalt von 1.200 Euro.

Trotzdem hat sich Diana Iwanowa dazu entschieden, ihre 87-jährige Mutter in ein Heim zu geben. "Mit der Zeit wurde mir klar, dass sie dort besser versorgt wird als zu Hause", sagt die 62-jährige Dolmetscherin aus Sofia. Lange habe sie nach einem geeigneten Heim gesucht, in dem die Pflegerinnen gewissenhaft arbeiten. Von Freunden und Bekannten hatte sie erschütternde Berichte gehört – über Pflegeeinrichtungen, in denen Kranke kaum betreut werden, Gebäude ohne Fahrstuhl und mit steilen, engen Treppen. Nach drei Jahren intensiver Suche fand sie schließlich einen Platz in einem staatlichen Heim. "Die anfänglichen Schuldgefühle, meine Mutter einfach abzuschieben, konnte ich überwinden", sagt Diana. Als Freiberuflerin könne sie sich‘s ohnehin nicht leisten, zu Hause zu bleiben.

(K)ein Ausweg: private Pflegekraft

Viele Familien greifen bei der Pflege zu Hause auf private Hilfe zurück – meist pensionierte Krankenschwestern, die gegen Barzahlung einspringen, wenn die Kinder arbeiten müssen. Doch auch diese Lösung gestaltet sich zunehmend schwierig: Immer mehr Pflegekräfte – auch junge Frauen mit medizinischer Ausbildung – verlassen Bulgarien Richtung Westeuropa, wo sie deutlich besser bezahlt werden. In Deutschland, Österreich oder der Schweiz verdienen sie bis zu 2.400 Euro im Monat – in Bulgarien hingegen nur 450 bis 1.000 Euro. Besonders stark war die Abwanderung nach 2013, als die Zugangsbeschränkungen zum EU-Arbeitsmarkt für Bulgarien und Rumänien fielen.

Ungerechte Geschlechterrollen

Traditionell sind es die Töchter, die man in der Pflicht sieht, die alten Eltern zu pflegen. Doch wie das Beispiel von Martin Denew zeigt, übernehmen zunehmend auch die Söhne diese Aufgabe. Von einer gerechten Rollenverteilung ist Bulgarien aber noch weit entfernt. "Noch immer tragen Frauen die größte Last, wenn sie ihre Arbeit unterbrechen, um pflegebedürftige Eltern oder Schwiegereltern zu betreuen", sagt Nedelina Grigorowa vom Gewerkschaftsbund. "Dabei verzichten sie auf ihre berufliche Karriere, arbeiten häufig in schlechter bezahlten Berufen und erhalten später entsprechend niedrigere Renten – obwohl sie im Schnitt länger leben als Männer."

Eine Untersuchung der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften aus dem Jahr 2022 bestätigt die ungleiche Verteilung der Pflegeverantwortung gegenüber Eltern. Demnach sind Töchter deutlich stärker in die Betreuung eingebunden, während sich Söhne in der Regel eher um die finanzielle Absicherung der Pflege kümmern. Eine Erhebung im Rahmen des SHARE-Projekts ("Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe", deutsch "Umfrage zu Gesundheit, Alter und Ruhestand in Europa") zeigt ebenfalls, dass sich in Süd- und Osteuropa, einschließlich Bulgarien, nur etwa 17 Prozent der Männer verpflichtet fühlen, ihre Eltern zu pflegen, während jede dritte Frau diese Aufgabe als ihre eigene betrachtet.

Immerhin: Ein langsames Umdenken findet in der bulgarischen Gesellschaft statt – auch wenn es oft aus der Not heraus geschieht.

MDR (baz)

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