Vor einem Jahr gewann Keir Starmer die Wahl in Großbritannien. Nach den Chaos-Jahren der Tories sollte der neue Premier Seriosität in die Politik des Landes bringen. Doch seine Regierung macht einen Fehler nach dem anderen.
Das Timing hätte nicht unglücklicher sein können. Fast genau ein Jahr nach dem überragenden Wahlsieg der Labour-Partei stand der britische Premier Keir Starmer in dieser Woche vor den Scherben eines zentralen Gesetzespakets.
Es ging um massive Einschränkungen bei der Behinderten- und Sozialhilfe, die er und seine Finanzministerin Rachel Reeves gegen alle Widerstände aus der eigenen Partei durchsetzen wollten, um umgerechnet mehr als sechs Milliarden Euro einzusparen. Angesichts der desolaten Lage der britischen Staatsfinanzen sei es ein alternativloser Schritt, hieß es vergangene Woche noch.
Nur wenige Tage später ist von dem Gesetzespaket so gut wie nichts geblieben. Nach einem beispiellosen Aufstand von mehr als 120 seiner eigenen Abgeordneten musste Starmer am Mittwoch fast das gesamte Unternehmen zurückziehen.
Ein Jahr voller Fehler
Labours überwältigende Mehrheit von 156 Abgeordneten im Unterhaus scheint seitdem fragil, Starmers eigene Autorität und die seiner Finanzministerin sind massiv erschüttert, während das gigantische Loch in der Staatskasse weiter wächst.
Das Abstimmungsdebakel im Unterhaus ist der bislang spektakulärste Crash in Starmers erstem Regierungsjahr, in dem seine Regierung mehr Fehler gemacht hat, als jede andere Regierung seit 1945 vor ihr - Liz Truss einmal ausgenommen. Die aktuellen Umfragewerte spiegeln das: Starmers Regierung rangiert im Schnitt bei 23 Prozent, auch das ist ein historisches Tief.
Die große Frage, die sich vor allem diejenigen stellen, die Starmer einigermaßen geschickt auf der internationalen Bühne haben agieren sehen, ist: Wie kann man in nur einem Jahr eine solche überragende Mehrheit im Parlament derart ruinieren? Was ist schiefgelaufen in der Downing Street?
Auf Regierungsarbeit nicht vorbereitet
Die kurze Antwort ist: Vieles. Das zugrundliegende Kernproblem, auf dem das konfus wirkende Hin und Her der jetzigen Regierung beruht, ist dabei der einfache Umstand, dass Starmers Team zwar einen durchaus effektiven Wahlkampf geführt hat, er aber auf die Regierungsarbeit selbst so gut wie gar nicht vorbereitet war.
Das ist nicht unbedingt etwas Neues in der britischen Politik, wo durch den sogenannten "Short-termism" - also die Tendenz, sich vor allem auf kurzfristige Ziele zu konzentrieren - schon so manches Regierungsprojekt zum Scheitern verurteilt war. In diesem Ausmaß aber hat es das gleich zu Beginn einer mit so viel Hoffnung auf einen Politikwandel gestarteten neuen Regierung noch nicht gegeben.
Es begann mit internen Fehden um Starmers Stabschefin Sue Gray, die zentrale Figur in der Downing Street, die schon nach wenigen Monaten das Handtuch warf. Auf die erfahrene Beamtin folgte Morgan McSweeney, Starmers engster Vertrauter und Wahlkampfstratege.
Mit diesem zentralen Personalwechsel allerdings änderte sich auch der Ton. Starmers ursprüngliches Versprechen, "zu liefern", den notwendigen politischen Wandel nach den chaotischen Tory-Jahren mittels konsequenter Arbeit am Detail zu erreichen, wurde mit McSweeney nun plötzlich von einer neuen wahlkampf-ähnlichen Strategie abgelöst.
Hektische Reaktionen auf Attacken von rechts
Mit einem Mal hielt der britische Premier Reden, die seine Nervosität angesichts fallender Umfragewerte spiegelten und immer häufiger die Narrative der Rechtspopulisten um Nigel Farage aufnahmen. Es ist eine Strategie, mit der die Tories schon in den Jahren zuvor gescheitert waren. Doch Starmer und seinen Stabschef schien das nicht davon abzuhalten, denselben Fehler noch einmal zu machen.
Anstatt in Ruhe an einem politischen Wandel zu arbeiten, folgten hektische Reaktionen auf die jeweils letzten feindseligen Schlagzeilen der weitestgehend rechten Boulevardpresse, die die Starmer-Regierung von Anfang an zu demontieren versucht hatte.
Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung war eine Rede im Mai dieses Jahres, als Starmer von unabsehbaren Schäden sprach, die die Immigration dem Land zugefügt habe. Er erklärte, man laufe Gefahr zu einer "Insel der Fremden" zu werden. Es ist ein Begriff, der nicht nur linke Labour-Abgeordnete an Enoch Powell erinnerte, der in den 1960er-Jahren wegen seiner rassistischen Äußerungen aus der konservativen Regierung flog.
Nachdem diese Rede für massiven Ärger nicht nur innerhalb seiner eigenen Partei sorgte, entschuldigte sich Starmer in einem Interview vergangene Woche. Er sei abgelenkt gewesen von den außenpolitischen Ereignissen und habe die Rede vorher nicht gründlich genug gelesen. So begrüßenswert dieser mittlerweile bei Politikern selten gewordene Gestus der Entschuldigung grundsätzlich sein mag, in Verbindung mit den massiven politischen Fehlern der vergangenen Monate wirkt Starmer dadurch vor allem schwach, unkonzentriert und orientierungslos.
Es fehlt die Vision
Es verstärkt vor allem das zentrale Problem seines ersten Regierungsjahrs: Das völlige Fehlen einer Vision und eines politischen Narrativs. Das zentrale Mantra der ersten Wochen, man wolle das Wirtschaftswachstum wieder ankurbeln, klingt hohl angesichts fehlender klarer Schritte in diese Richtung.
Eine konkrete Wiederannäherung an die Zollunion der EU, die das seit dem Brexit schwindende britische Bruttosozialprodukt wieder stärken könnte, schließt Starmer weiterhin aus. Und das, obwohl mehr als 60 Prozent der Briten den Brexit mittlerweile als Fehler sehen. Aus Angst vor der rechten Presse liefert er stattdessen halbherzige Annäherungsversuche, für die er in eben jener Presse aber genauso verprügelt wird, als wenn er über Nacht handstreichartig der EU wieder beigetreten wäre.
All das lässt jene Regierungsprojekte, die für das Land langfristig wirklich positiv sein dürften, wie etwa das massive Investment in das marode Gesundheitssystem, in der Öffentlichkeit völlig untergehen. Die fehlende Fähigkeit dieses Premiers, authentisch zu erklären, wofür er und seine Regierung stehen, hat daran einen entscheidenden Anteil.
Stärkung der Rechtspopulisten
Aber Starmer ist eben kein Politiker, sondern ein Technokrat, der sich im digitalen Zeitalter in der politischen Landschaft wie auf einem ihm unbekannten Minenfeld bewegt. In einer vom Rechtspopulismus verwüsteten Umgebung kann ein solch zaghaftes Reparieren der durch jahrelange Misswirtschaft und den Brexit entstandenen Schäden beim Wähler nur den Eindruck verschärfen, dass die großen "Mainstream"-Parteien am Ende doch alle gleich sind.
Es ist eine Entwicklung, die bereits begonnen hat und die Starmer durch seine nervöse Normalisierung der rechtspopulistischen Narrative nur weiter verstärkt. In den Umfragen liegt Nigel Farage von der rechtspopulistischen Partei Reform UK bereits jetzt klar vorne. Es ist nicht mehr auszuschließen, dass er bei den nächsten Wahlen als Premier in die Downing Street einzieht, wenn Starmer so weiter macht.
Der einzige Faktor, den der britische Premier dabei auf seiner Seite hat, ist die Zeit. Die nächsten Wahlen finden aller Voraussicht nach erst 2029 statt. Bis dahin muss Keir Starmer sein Regierungsschiff mitsamt seiner meuternden Besatzung noch einmal komplett neu auf Kurs bringen. Und dabei muss er vor allem eins tun: den Briten endlich sagen, wohin die Reise eigentlich gehen soll.
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