«Ich will mein Haus zurück», sagt Ulf Grüssner. Die Chancen des 85 Jahre alten Åländers stehen nicht schlecht. Gemeinsam stellt er sich jeden Nachmittag um fünf Uhr vor das russische Generalkonsulat in der kleinen Hauptstadt des Archipel, Mariehamn, und skandiert: «Ukraina, Ukraina, Putin nach Den Haag, Putin nach Den Haag!».

Grüssner war sechs Jahre alt, als kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sowjetische Diplomaten vor «Solkulla», dem Haus seiner Mutter in Saltvik, 25 Kilometer nördlich von Mariehamn auftauchten und erklärten: «Das gehört jetzt alles uns, auch Eure Kleider.» In einem Abkommen hatte Finnland nach dem Zweiten Weltkrieg Moskau das Recht eingeräumt, das Eigentum von Deutschen zu konfiszieren. Ulfs Vater war ein deutscher Soldat, der in Finnland gekämpft hatte.
Heute hat Åland eine eigene Stimme
Auf halbem Weg zwischen Finnland und Schweden liegt mitten in der Ostsee das Åland-Archipel, ein aus über 6000 Inseln bestehender Archipel. Über Jahrhunderte nutzten nordeuropäische Grossmächte das Gebiet als Pufferzone und Sprungbrett für ihre imperialen Ambitionen: Bis 1814 gehörte Åland zu Schweden, dann fiel es zu Russland.
Der Bau einer riesigen Festungsanlage in Bomarsund nördlich von Mariehamn wurde jedoch im Åland-Krieg 1854 durch eine britisch-französische Flotte verhindert und im nachfolgenden Abkommen – dem Pariser Frieden – willigte der Zar ein, den Archipel zu demilitarisieren. Dieses Modell wurde 1921 im Völkerbund bestätigt und noch ausgebaut: Zusätzlich erhielt Åland ein eigenes Parlament und Regierung.
«Die Geburtsstunde unserer Autonomie war ein grosser Erfolg für die internationale Diplomatie», sagt Jörgen Pettersson, Ålands Parlamentspräsident: «Heute können wir uns als eigene Nation betrachten.» Dabei gehört die Inselgruppe aussenpolitisch weiterhin zu Finnland, hat aber sowohl in der Europäischen Union – der Åland nach einer Volksabstimmung 1995 beitrat – wie auch in der Nato (in der sie seit 2023 gemeinsam mit Finnland Mitglied ist) eine eigene Stimme.
Gleichzeitig aber bleibt Åland ein neutrales und demilitarisiertes Territorium, wie es vor über einem Jahrhundert im Völkerbund festgelegt wurde. Dort spielte der frühere Schweizer Bundesrat und Bundespräsident Felix Calonder, der erste Rätoromane in der eidgenössischen Exekutive, eine «entscheidende Rolle», sagt der Historiker Jerker Örjans: «Auch dank seines Einsatzes bekamen wir ein ganz auf Frieden angelegtes Gesellschaftsmodell.»
Åländische Sonderlösungen
Nun steht aber dieses Åland-Modell wegen der wachsenden geopolitischen Spannungen auf dem Prüfstand: «Wir sind stolz auf unsere Autonomie und müssen diese überall dort aktiv vertreten, wo Beschlüsse gefasst werden, die uns betreffen», betont Mats Löfström.
Der 41-jährige Familienvater ist seit zehn Jahren der einzige Vertreter Ålands im finnischen Parlament in Helsinki. Nun fordert Löfström zudem einen fixen åländischen Sitz im Europäischen Parlament: «Wir haben mit unserem Beitritt einen Teil unserer Gesetzgebungsmacht an Brüssel abgegeben, das muss kompensiert werden.»
Die åländischen Sonderlösungen beschränken sich nicht nur auf den internationalen Status, die Militärfreiheit und die Autonomie: Auch wirtschaftlich fährt die Region ihren eigenen Kurs. «Uns trennt eine Steuergrenze zum Rest der Europäischen Union, das hat Vor- und Nachteile», sagt Susanne Olofsson, die Leiterin des åländischen Gewerbeverbandes: «Dank dieser Grenze und dem damit verbundenen Zollfreihandel legen fast alle Passagierfähren, die zwischen Schweden und Finnland verkehren, in Åland an. Umgekehrt hemmt diese Grenze aber auch den Aussenhandel, weil er mit viel Bürokratie verbunden ist», betont Olofsson.
Die Seefahrt mit grossen Reedereien wie Viking Line und Eckerö Linjen generiert die grössten Einkünfte der Region. Daraus haben sich weitere Branchen wie die auf hoher See populären Geldspiele entwickelt. Die hier gemachten Gewinne fliessen über die gemeinnützige Automatenspielgesellschaft PAF nach Åland zurück.
«Wir investieren derzeit viel Geld in den Aufbau einer internationalen Schule für IT-Spezialisten», sagt Anna-Lena Svenblad, die Direktorin von Grit.lab. Die ganz ohne Lehrkräfte operierende Hochschule zieht Studierende aus der ganzen Welt an, deren Ausbildungskosten von PAF gedeckt werden. «Wir hoffen natürlich, dass viele nach ihrem Abschluss in Åland bleiben», betont Svenblad.
Ein gutes Leben – aber unter den Augen Russlands
In der beschaulichen Hauptstadt Mariehamn lebt es sich gut: «Hier gibt es alles, was es zum Leben braucht», sagt Jeanette Finnars, die gemeinsam mit ihrem Mann Mattias Jörgensen und dem zwei Jahre alten Sohn Phillipe wenige Meter entfernt von der Ostsee in einem Haus mit viel Umschwung lebt: «Alles ist nahe, mein Arbeitsplatz, der Kindergarten, die Läden und unsere Freunde», betont Finnars, die als Architektin arbeitet.

Ihr Mann betreibt ein Elektrogeschäft, das auf Schiffen in ganz Europa tätig ist. Sorgen bereitet der Familie jedoch die Weltlage: «Es ist doch absurd, dass gerade Russland gemäss internationaler Verträge die Aufgabe zukommt, unsere Demilitarisierung zu überwachen», betont Jörgensen. Eine Anfrage von SRF an das russische Generalkonsulat in Mariehamn zu dieser Rolle wird vom zuständigen Konsul Aleksandr Rogov abschlägig beantwortet.

Im letzten Herbst folgte ein finnisches Gericht dem Antrag des ukrainischen Energiekonzerns Naftogaz auf Schadensersatzzahlungen für verlorenes Eigentum auf der 2014 durch Russland annektierten Krim. Als Folge davon sollen nun russische Immobilien in Åland konfisziert und versteigert werden, um so an Mittel für diese Zahlungen zu kommen.
Dazu gehört auch Ulf Grüssers Geburtshaus in Saltvik. «Ich werde mich an dieser Versteigerung beteiligen und meine Liegenschaft zurückkaufen», betont Grüsser zum Abschluss der täglichen Antikriegsdemo vor dem russischen Generalkonsulat in Mariehamn.
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