Die Straßen in Berlin sind leer an diesem 8. Mai, dem diesjährigen Feiertag zum Gedenken an die Befreiung aus der NS-Diktatur. Drinnen vibriert das Telefon, es meldet sich die warme Stimme von Reinhardt O. Hahn. Er wird erzählen, wie das alles war, mit den Büchern und der Diktatur, nicht der nationalsozialistischen, sondern der anderen, der zweiten auf deutschem Boden. Aber vor allem soll es um die Sache mit jener Verwechslung gehen, wegen der Hahn die letzten 30 Jahre seines Lebens hinterfragt.
Hahn, Jahrgang 1947, war in der DDR ein bekannter Autor. Sein Anfang der Achtzigerjahre verfasster Roman „Das letzte erste Glas“ verkaufte sich rund 350.000 Mal und brachte es auf 17. Auflagen. Die Geschichte eines alkoholkranken Mannes, die auch die persönliche Geschichte Hahns war, wurde vom SED-Regime zunächst mehrere Jahre zurückhalten, ehe Hahn 1986 doch publizieren durfte. Mittlerweile ist er seit fast 40 Jahren trocken.
Die besagte Verwechslung nimmt kurz nach dem Fall der Mauer ihren Lauf. Da trifft er zufällig seinen Nachbarn in der Kaufhalle, erzählt Hahn munter. Der ist ganz betrübt und gesteht ihm, dass er Beamter im Ministerium für Staatssicherheit gewesen sei und ihm nun die Arbeitslosigkeit drohe. Hahn erkennt: Was der Mann erzählt, ist guter Stoff für ein Buch. Mit Erlaubnis des Nachbarn notiert er alles mit. Innerhalb weniger Wochen schreibt er das Manuskript runter, 1991 erscheint die Novelle „Ausgedient: Ein Stasi-Major erzählt“, versehen mit dem Zusatz „Notiert von Reinhardt O. Hahn“.
Wenig später erscheint in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ eine Buchbesprechung über „Ausgedient“. Der Artikel stellt den Autor in direkten Bezug zu Erich Mielke. So heißt es darin: „Ähnlich wie sein damaliger oberster Dienstherr von einst kann der Verfasser des vorliegenden Buches, ein anonym bleibender ehemaliger Stasi-Major, den Untergang seines Ministeriums nicht verkraften.“ Abgesehen vom gehässigen Unterton eine für den Leser verwirrende Aussage – denn der Reinhardt Hahn als Verfasser ist eben gerade nicht jener „anonym bleibende Stasi-Major“.
Dann passiert in der Sache erst mal gut 35 Jahre lang – nichts. Nach der Wiedervereinigung klappt vielleicht manches in Hahns Autorenkarriere nicht so wie erhofft, womit er dasselbe Schicksal teilt wie so viele DDR-Schriftsteller, die im kulturellen Referenzrahmen der neuen BRD irgendwie keine Stimme mehr finden.
Sprung in den Oktober 2024. Der Stadtrat in Halle berät über den Preisträger des mit 10.000 Euro dotierten Lutherpreises „Das unerschrockene Wort“. In der Sitzung fällt als Kandidat der Name Hahns. Doch er wird schnell abgelehnt, man will ihn nicht. Einige Tage nach der Sitzung, so erzählt es Hahn, kommt ein Bekannter auf ihn zu mit gutem Draht in den Stadtrat. Er sagt, er solle mal schauen, „ob er nicht irgendwelche Leichen im Keller“ habe. Eine Aussage mit drei Pünktchen am Ende.
Hahn bekommt ein mulmiges Gefühl, aber weiß nicht, was los ist. Er setzt sich vor den Rechner und googelt, „drei, vier Tage lang habe ich das gemacht“, auf der Suche nach irgendetwas Anrüchigem. Dann wird er fündig. Eine Liste der Berliner Robert-Havemann-Gesellschaft, die seinen Namen führt, direkt unter Kurt Hager, dem berüchtigten Chefideologen der SED. Dahinter steht der Zusatz „MfS-Offizier“. Reinhardt O. Hahn, ein aktenkundiger Stasi-Spitzel?
Ortswechsel, Berlin Lichtenberg, ein schmuckloser Waschbeton-Bau, nur wenige Meter von der ehemaligen Stasi-Zentrale entfernt. Sebastian Zilm, Leiter für Kommunikation bei der Robert-Havemann-Gesellschaft wirft die Stirn in Falten. „Der Vorfall um Herrn Hahn ist eine unfassbar unglückliche Verkettung von Umständen“, sagt er und deutet auf einen Sessel. An der Wand hängt eine Leinwand mit dem vergrößerten Schwarz-Weiß-Foto eines DDR-Protestmarschs. Nach der Wende gründete sich aus den Akteuren der Bewegung heraus die Havemann-Gesellschaft, wenig später, im Mai 1992, begann die Arbeit am Aufbau des Archivs. Schriften, Flugblätter, Fotos, die Gesellschaft dokumentierte alles, was aus der DDR-Opposition kam.
„Das hier soll ein positiver Ort sein, der für die Überwindung der Diktatur steht“, sagt Zilm, der mit seiner aufgeschlossenen Art auch in einem Start-Up in Berlin-Mitte arbeiten könnte. Dabei sehe sich die Gesellschaft auch als wichtige Ergänzung zur ehemaligen Stasi-Unterlagenbehörde. „Die Stasi-Unterlagen-Behörde ist ein Archiv, in dem Berichte über die Opposition verwahrt werden – das der Havemann-Gesellschaft hingegen eines aus der Opposition“, fasst Zilm zusammen.
Als Reinhardt Hahn von der digitalisierten Liste im Archiv der Havemann-Gesellschaft erfährt, gerät alles um ihn ins Wanken. „In den ersten Tagen wollte ich Schluss mit allem machen“, sagt Hahn. Er kontaktiert die Havemann-Gesellschaft, dort zeigt man sich bestürzt, nimmt die Liste umgehend aus dem Netz und formuliert ein Entschuldigungsschreiben. Denn auch dort wird allen schnell klar: Hahn war nie für die Stasi tätig, im Gegenteil, er ist ihr Opfer.
Mit fünf Jahren flieht er mit der Mutter in den Westen, da steht die Mauer noch nicht. „Am 16. Juni 1953 war das“, erzählt Hahn mit lebhafter Stimme, ein Tag vor den Aufständen des 17. Juni. Als der Vater einige Jahre später krank wird, schickt seine Mutter Reinhardt zurück nach Ost-Berlin. Kurz darauf stirbt der Vater, Hahn ist jetzt alleine, er kann nicht zurück in den Westen, denn mittlerweile steht da diese hohe Mauer, mit Stacheldraht und bewaffneten Grenzpolizisten drumherum. Er kommt in ein DDR-Kinderheim, versucht eines Tages über die Mauer in den Westen zu fliegen, wird erwischt und von den Grenzbeamten verprügelt.
Mit Anfang zwanzig zieht Hahn nach Halle, dort wird sein Interesse für Literatur geweckt. Sein „Hauskreis Hahn“, in dem er mit Freunden über Bücher, Philosophie und Gott und die Welt redet, kommt der Stasi bald verdächtig vor. Sie setzt mehrere IMs auf Hahn an, legt operative Kontrollvorgänge über den Hauskreis an. Eines Tages sacken die „Männer in den langen Mänteln“ Hahn ein. Sie bringen ihn auf die Bezirksleitung in Halle, wo sie ihm klarmachen: mit dem „Hauskreis Hahn“ ist Schluss, sonst Stasi-Knast. „40 Jahre Diktatur, das können sich die Leute gar nicht mehr vorstellen“, ruft Hahn.
Birthler, Berger, Beleites - alphabetisch sortiert und in weißen Archivboxen sorgfältig verstaut liegt das Material aus mehreren Jahrzehnten DDR-Opposition in den Regalen der Havemann-Gesellschaft. Archivgut von insgesamt rund 2000 laufenden Meter, nicht mal die Hälfte davon ist bislang erschlossen. Doch wo ist jetzt die Täter-Liste mit Herrn Hahn drauf? Sebastian Zilm runzelt die Stirn. Eine „Täter-Liste“ gebe es nicht und habe es nie gegeben.
„Anfang der 1990er-Jahre haben wir begonnen, zusätzlich eine Presseauswertung zu erstellen“, erklärt Zilm. Das sei im Bewusstsein geschehen, so viele Informationen wie möglich über die DDR zusammenzutragen. „Es war damals auch eine Zeit, in der noch fast jede Woche ein IM enttarnt wurde.“ Auch zweifelsfrei unbelastete Personen wie Nina Hagen befänden sich auf der Liste. Jedenfalls seien die Mitarbeiter damals auch auf besagten Zeitungsartikel vom Juli 1991 gestoßen. Diesen habe man allem Anschein nach nicht aufmerksam genug gelesen oder schlicht missverstanden.
Jedenfalls habe der Archiv-Mitarbeiter, so Zilm weiter, aufgrund des Artikels Hahn in die Liste aufgenommen und mit dem Vermerk „MfS-Offizier“ versehen. „Diese Pressesammlung und das dazugehörige Inhaltsverzeichnis mit Herrn Hahns Namen liegt seit Jahren unten im Keller in einem nicht öffentlich zugänglichen Bereich des Archivs“.
Er geht am Regal mit dem archivierten Nachlass Robert Havemanns vorbei, über 200 nummerierte Aktenordner. „Kommen Sie, ich zeige sie ihnen.“
„Ich habe keine Kredite mehr bekommen“
In den Wochen nach der Entdeckung kommt Reinhardt Hahn ins Grübeln. „Das ist also jetzt über 30 Jahre öffentlich zugänglich gewesen für jeden Bibliothekar und Lehrer, jede Institutionen und jeden Kulturmenschen“, sagt er. Seine Stimme ist jetzt etwas leiser. Er habe Leute aus seinem früheren Umfeld in Halle gefragt, ob sie von der Liste gewusst hätten. Ein ehemaliger Bekannter habe ihm geantwortet, so berichtet Hahn: „Na hör mal, wir haben das ja gewusst, wir wussten das immer, dass du bei diesen Leuten gewesen sein sollst.“ Darauf angesprochen hat man ihn aber nie.
Hahn erzählt weiter, wie er in Gedanken die letzten Jahrzehnte durchging, überlegte, was alles schieflief und nicht klappte, angefangen beim Lutherpreis letzten Herbst. „Ein Göttergeschenk wär das gewesen! Zehntausend Euro, 16 Städte, 16 Lesungen“ ruft Hahn, der von gut 900 Euro Rente lebt. Aber er sei noch tiefer in die letzten 30 Jahre gegangen. „Ich habe zum Beispiel keine Kredite bekommen“, meint er. Und zu Lesungen sei er auch nicht mehr eingeladen worden, „kein Geld, keine Termine, vielleicht nächstes Jahr“, habe es stets geheißen, berichtet Hahn und dabei kann er die Kränkung in seiner Stimme nicht ganz verbergen.
Im Keller der Havemann-Gesellschaft schüttelt Sebastian Zilm den Kopf. „Wir wollen uns nicht von Schuld freisprechen“, wiederholt er noch einmal deutlich. Für Herrn Hahn sei das alles eine Katastrophe. „Das Problem ist aber die Dimension, die hier aufgemacht wird.“ Diese Verwechslung sei nicht verantwortlich dafür, dass vielleicht das ein oder andere in den letzten 35 Jahren so nicht geklappt habe, wie Herr Hahn sich das vorgestellt habe. Auch Banken oder Institutionen wie die Schufa würden garantiert nicht das Archiv der Havemann-Gesellschaft durchgehen, so Zilm weiter.
An der Decke zuckeln kalte Neonröhren. Zilm zückt den Ordner mit den Pressmaterialien aus einem Regal, fährt mit dem Finger über das vor Jahrzehnten mit Kuli beschriftete Registerblatt. Hagen, Nina – Hager, Kurt - Hahn, Reinhard. Das „t“ am Ende seines Namens fehlt. Zilm schlägt den Ordner an der Stelle auf. Darin befindet sich ein einziges DIN A4-Blatt, fein säuberlich klebt darauf der Zeitungsartikel von 1991.
Und der Vermerk „MfS-Offizier“? Der befinde sich lediglich vorn im Inhaltsverzeichnis, das auch online zu finden war. Zilm bezweifelt, dass das entsprechende PDF-Dokument überhaupt je eine größere Verbreitung gefunden hat. „Das ist jetzt nicht direkt aufgeploppt, wenn man auf unsere Website gegangen ist.“ Er klappt den Ordner wieder zu und stellt ihn zurück ins Regal. „Die Funktionsbeschreibungen da reinzuschreiben war im Nachhinein betrachtet aber überflüssig“, gibt er zerknirscht zu.
Übertreibt Hahn also mit der Bedeutung der Liste? Oder versucht man bei der Havemann-Gesellschaft im Gegenzug alles runterzuspielen? Beweisen kann Hahn nicht, dass er wegen seiner angedichteten Stasi-Vergangenheit handfeste Nachteile erlitten hat. Genauso wie die Havemann-Gesellschaft das Gegenteil beweisen kann. Zynisch wirkt die ganze Verwechslung dennoch - gerade in Anbetracht von Hahns DDR-Biografie.
Auf dem Weg zum Ausgang geht Sebastian Zilm an Exponaten im Archiv vorbei. Er zeigt auf eine alte Druckerpresse. Die meist westdeutschen Fabrikate wurden zunächst in ihre Einzelteile zerlegt, ehe sie über die Grenze in den Osten geschmuggelt und dort mühsam DDR-Oppositionellen wieder zusammengeschraubt wurden. Auch das zeigt der „Fall Hahn“: dass es 35 Jahre nach der Deutschen Einheit noch immer keinen zentralen Gedenkort mit bundesweiter Ausstrahlung gibt, der das Engagement der DDR-Bürgerrechtsbewegungen angemessen würdigt. Nur einen geduckten Waschbeton-Bau in der Berliner Peripherie.
„Das Leben geht weiter“, lautet der erste Satz von Reinhardt Hahns Novelle „Ausgedient“. Vielleicht finden unter dieser Losung ja Autor und Archiv in Zukunft zusammen. Hahn berichtet am Telefon, dass er das Entschuldigungsschreiben akzeptiert habe und nachdenke, der Havemann-Gesellschaft einen Vorlass aus seinem Fundus zukommen zu lassen. Es wäre auch für die deutsche Öffentlichkeit ein Gewinn, die noch immer zu wenig über die zweite Diktatur in diesem Land redet.
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