2024 gerät der Eurovision Song Contest im schwedischen Malmö zum Skandal. In Basel sollte in diesem Jahr alles anders werden. Die Eidgenossen sind tatsächlich in Feierlaune, aber die Politik holt das Event auch in der neutralen Schweiz ein.
Schweden. Und immer wieder Schweden. Seit die glorreichen irischen Zeiten der 80er- und 90er-Jahre beim Eurovision Song Contest (ESC) vorbei sind, dominiert kein anderes Land die Veranstaltung derart wie die Wiege von ABBA.
Sieben Siege haben sich die Skandinavier inzwischen ersungen. Und auch in diesem Jahr droht ihnen alles andere als ein Waterloo. Sogar mit einer Quatschtruppe wie KAJ und ihrer Sauna-Hymne "Bara bada bastu", die wie die - tatsächlich - finnischen Mitglieder des Trios eigentlich eher ins östliche Nachbarland passen würde, werden die Schweden als einer der Topfavoriten gehandelt.
Doch als der Song Contest im vergangenen Jahr in Malmö Station machte, wollte irgendwie so gar keine Thank-you-for-the-music-Stimmung bei den ESC-Überfliegern aufkommen. Stattdessen war das Zentrum der südschwedischen Stadt streckenweise nahezu ausgestorben. Wer sich zum "Eurovision Village" genannten Public-Viewing-Areal im Folkets Park aufmachte, musste erst einmal eine mit pro-palästinensischen Transparenten drapierte Straße durchqueren. Demonstrationen gegen die Teilnahme Israels an dem Wettbewerb waren an der Tagesordnung. Terrorangst machte sich breit. Als dann auch noch mehrere ESC-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer aus anderen Ländern zum Bashing der israelischen Kandidatin Eden Golan ausholten, geriet die Veranstaltung endgültig zum Eklat.
Als würde es ABBA noch geben
In Basel sollte sich dieses Desaster in diesem Jahr nicht wiederholen. Die Voraussetzungen dafür waren allein unter ökonomischen Vorzeichen bestens. Anders als der soziale Brennpunkt und Kriminalitäts-Hotspot Malmö schwimmt die Kulturhauptstadt der Schweiz im Geld - den Banken und der hier ansässigen Chemie- und Pharma-Industrie sei Dank. Dementsprechend gepfeffert sind die Preise auch im Alltag. Doch was ESC-Gäste aus den meisten anderen Ländern zum Stöhnen bringt, wenn bereits für eine Pizza und ein Getränk ein kleines Vermögen fällig wird, hat in anderer Hinsicht eben auch sein Gutes: In Basel kommt - dann dem Geldbeutel zuliebe eben mit ein, zwei Bier weniger intus - wirklich Feierlaune auf.
Wenn man in dieser Woche die zur "Eurovision Street" umbenannte Steinenvorstadt bis hin zum "Eurovision Square" am Barfüsserplatz entlang schlenderte, tobte am Abend auch mitten unter der Woche das pralle Leben. Viele Geschäfte werben in ihren Schaufenstern stolz mit der Veranstaltung in ihrer Stadt. In der Straßenbahn ertönen freudige Durchsagen wie: "Willkommen in Basel und viel Spaß beim Eurovision Song Contest."
Das "Eurovision Village" wurde auf dem Messeareal der Stadt zu einer gigantischen Indoor-Arena. Wer hier rein wollte, um etwa bei den ESC-Halbfinal-Shows auf Großbild-Leinwänden mitzufiebern, musste sich jedoch zunächst in eine gefühlt bis nach Zürich reichende Schlange vor den rigiden Einlasskontrollen einreihen. Hatte man es geschafft, die heiligen Hallen rechtzeitig zu betreten, erwartete einen zur Einstimmung erst mal eine geballte Ladung ABBA-Hits. Von einer Coverband vorgetragen, versteht sich. Doch das tat der Feierlaune keinerlei Abbruch. Die ultraprofessionelle Perückentruppe wurde von den Tausenden Zuhörerinnen und Zuhörern so lautstark bejubelt, als handele es sich um die echten Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid.
"Come On Basel, Let's Go Party"
"All You Need is Basel", "Let Basel Entertain You" oder "Come On Basel, Let's Go Party" prangt einem immer und überall auf Plakaten, Hinweisschildern oder Hochhaus-Transparenten entgegen. Da kann selbst Barbie nicht nein sagen, wenn sogar das Kunstmuseum wirbt: "Feel United By Art - Welcome ESC!"
Doch dass der Konflikt, der im Vorjahr in Malmö beinahe alles andere in den Schatten stellte, im Hintergrund unvermindert schwelt, kann auch die gelungene Willkommenskultur in der neutralen Schweiz nicht restlos überdecken. Schließlich ist auch beim diesjährigen ESC Israel mit von der Partie. Yuval Raphael heißt die Sängerin, die das Land mit dem Lied "New Day Will Rise" in Basel vertritt.
Wenngleich die 24-Jährige ihre Hymne derart überzeugend schmettert, dass auch sie zum engen Favoritenkreis gezählt werden muss, ist sie eigentlich erst seit Kurzem Sängerin. Bekannt wurde Yuval Raphael zuvor aus einem ganz anderen und wesentlich dramatischeren Grund: Sie besuchte am 7. Oktober 2023 das Supernova-Festival in Israel und überlebte den Terrorangriff der Hamas an diesem Tag nur knapp.
Rund ein Drittel der über 1100 Opfer des Massakers wurde allein an dem Ort niedergemetzelt, an dem damals die Menschen wie jetzt in Basel nur ausgelassen feiern wollten. Raphael schilderte das Erlebnis unter anderem vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen. Stundenlang versteckte sie sich in einem Bunker unter den Leichen anderer Besucherinnen und Besucher, auf die die Angreifer aus dem Gazastreifen wahllos gefeuert hatten.
"Liebe, Einheit und Musik"
"Ich fokussiere mich auf Liebe, Einheit und Musik", sagte Raphael vor ihrer Reise nach Basel. Gleichwohl war ihr bewusst, dass der Nahost-Konflikt ungeachtet ihres persönlichen Schicksals auch beim ESC auf ihrem Rücken ausgetragen werden würde. Sie rechne mit Buhrufen, räumte sie ein. Sie bereitete sich sogar darauf vor, indem sie ihren Auftritt vor einer künstlichen Geräuschkulisse probte.
Weil es im schlimmsten Fall nicht nur bei Buhrufen bleiben könnte, wird Raphael wie auch schon ihre Kollegin Eden Golan in Malmö rigide abgeschirmt. Mehrere Interviewanfragen von ntv.de an sie blieben unbeantwortet. Gesprochen hat sie nur mit einigen handverlesenen Medien wie jüdischen Publikationen oder internationalen Nachrichtenagenturen - und auch das nur unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen, wie zu erfahren war.
Dass die Vorsicht gerechtfertigt ist, konnte man bereits während der ESC-Eröffnungsfeier am vergangenen Sonntag erleben. Zwar protestierten am Rande der Veranstaltung nur rund 150 pro-palästinensische Demonstranten. Einer von ihnen zeigte jedoch just beim Auftritt der Terrorüberlebenden Raphael vor laufender Kamera eine Kopf-ab-Geste. Die israelische Delegation erstattete daraufhin Anzeige.
Nemo contra Israel
Unterdessen machen diverse Aufrufe, Israel vom ESC auszuschließen, die Runde. Ein offener Brief, in dem ehemalige Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wettbewerbs genau dies fordern, fand ausgerechnet auch Nemos Unterstützung. Nemo hatte mit dem Lied "The Code" den ESC in Malmö gewonnen und die Veranstaltung somit in die Schweiz geholt. Als nichtbinäre Person möchte Nemo nicht als "er" oder "sie" identifiziert, sondern mit einem Pronomen wie "dey" angesprochen werden.
"Ich unterstütze die Forderung nach einem Ausschluss Israels vom Eurovision Song Contest", spuckte Nemo in einem Interview mit "Huffpost UK" seinen feiernden Landsleuten in die Suppe. Und weiter: "Die Handlungen Israels stehen in grundlegendem Widerspruch zu den Werten, die der Eurovision Song Contest zu vertreten vorgibt - Frieden, Einheit und Achtung der Menschenrechte."
Die Gegenkritik, dass sich ausgerechnet eine Person, die ansonsten Inklusion predigt und einfordert, nun im Falle der israelischen Sängerin für einen Ausschluss einsetzt, ließ nicht lange auf sich warten. Ebenso wenig wie die Polemik, dass Nemo ja mal versuchen könne, Hamas-Mitglieder für seine Performance zu begeistern. Prompt wurden auch Forderungen laut, Nemo vom ESC-Finale am Samstagabend auszuschließen. Aber auch das wird nicht passieren. Nemo wird in einer Pause der Show einen - betont femininen - Auftritt hinlegen.
Trillerpfeifen und Demos
Die für den ESC verantwortliche Europäische Rundfunkunion (EBU) konterte unterdessen Nemos Aussagen und die Forderungen nach einem Ausschluss Israels. "Die EBU ist ein Zusammenschluss öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten - keine Regierungen", teilte sie mit und traf damit auch eine Unterscheidung zu Russland und Belarus, die seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine vom ESC verbannt sind. Während es in den Reichen von Wladimir Putin und Alexander Lukaschenko keine unabhängigen Medien mehr gibt, wird dem israelischen ESC-Sender KAN hinreichende Staatsferne attestiert.
Mal ganz abgesehen davon, dass ein Unterschied nie unterschlagen werden darf: Im Falle Russlands gibt es einen eindeutigen Aggressor, der unprovoziert einen Angriffskrieg begonnen hat. Im Falle Israels liegt die Sache bei aller Kritik, aller Ablehnung und allem Entsetzen mit Blick auf das aktuelle Vorgehen der Regierung von Benjamin Netanjahu im Gazastreifen dagegen anders: Auslöser der unerträglichen Eskalation im Nahen Osten war das Massaker der Hamas - das Massaker, das Yuval Raphael beinahe nicht überlebt hätte. Das erwähnen jedoch weder die Unterzeichner des offenen Briefes noch Nemo mit nur einer Silbe. Geschweige denn, dass sie auch nur einen Hauch der Empathie für die israelische Kandidatin zum Ausdruck brächten.
Tatsächlich hat die EBU schon lange im Vorfeld des diesjährigen Song Contests Konsequenzen aus den Erfahrungen im Vorjahr gezogen. Fanden in Malmö noch Pressekonferenzen mit den Gewinnerinnen und Gewinnern der Halbfinale statt, wurden diese in Basel ersatzlos gestrichen. Damit sollte auch verhindert werden, dass es erneut zu Szenen kommt, in denen die israelische Kandidatin von Mitbewerberinnen und Mitbewerbern aus anderen Ländern auf offener Bühne desavouiert wird. In Malmö hatte unter anderem der Niederländer Joost Klein Stimmung gegen Eden Golan gemacht.
Doch der Einfluss der EBU hat Grenzen. In einer Generalprobe zum zweiten Halbfinale war Yuval Raphaels Auftritt schon von Trillerpfeifen gestört worden. Unklar, auf welche Publikumsreaktionen sie am Samstagabend im Finale treffen wird. Vor der Halle wurden bereits abermals Demonstrationen angekündigt. Sie wolle "gerade wegen des Hasses", den sie gesehen und erlebt habe, "Liebe zurückgeben", sagte Raphael - und könnte doch prompt wieder Hass erfahren. So gut die Schweizer den ESC auch zu feiern wissen - ungetrübt bleibt er auch bei ihnen nicht.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke