Berlin im Sommer, in den Neunzigern, während der Loveparade. Ein Paar liebt sich im Freien auf den Treppenstufen vor der Bundestagsverwaltung. Von der Kamera des Fotografen lässt es sich so wenig stören wie von fremden Blicken. Andere Bilder zeigen eine Schwangere in Latexunterwäsche mit bemaltem Bauch, ein Mädchen an der Siegessäule, das sich für ein T-Shirt mit der Aufschrift „Pornostar“ entschieden hat, und den im Dienst tanzenden Polizisten mit der Trillerpfeife.

Da ist wieder der Betonbauer Matthias Roeingh aus Spandau, der den Straßenumzug 1989 mitbegründet hat, als Dr. Motte neben einem Banner mit dem Marschbefehl „Wir sagen ja!“ Westbam, der Vordenker der „Ravenden Gesellschaft“, sitzt auf seinem DJ-Wagen. Hunderttausende ziehen halbnackt oder verkleidet durch die neue deutsche Hauptstadt und feiern Liebe, Frieden und Freiheit – und sich selbst als Menschen in der Masse.

Die Fotografien stammen von Daniel Biskup und aus anderen Zeiten, die länger zurückzuliegen scheinen als nur zwei bis drei Jahrzehnte. Es ist eine andere Epoche, die in Bonn, der alten Hauptstadt, im Haus der Geschichte zu bestaunen ist. Die Ausstellung heißt „Friede, Freude, Eierkuchen“. Unter dem noch älteren Dreisatz für die deutsche Sehnsucht nach Ruhe, Ordnung und Harmonie war die erste Demonstration am 1. Juni 1989 angemeldet worden. Dr. Motte zog mit 150 Ravern und einem VW-Bus für die Lautsprecheranlage über den Kurfürstendamm und spielte Acid House. Die Stadt war noch geteilt. Im Rückblick wollen Tausende dabeigewesen sein und die Berliner Mauer durch die Bässe mindestens erschüttert haben.

Daniel Biskup war damals als junger Fotograf dort, wo die Grenzen für die Ostdeutschen bereits geöffnet waren und sich andeutete, dass die Mauer bald Geschichte sein könnte: in Ungarn. 1988 war er schon in der Sowjetunion, weil ihn die Perestroika interessierte, Gorbatschows Reform des Sozialismus und die Folgen. Kein westdeutscher Fotograf hat sich, neben Politiker-Porträts und Reportagen für Nachrichtenmagazine, der Transformation des Ostens aufmerksamer zugewandt als Biskup. „Spuren“ heißt sein aktueller Bildband über die noch immer sogenannten neuen Bundesländer. Er zeigt, wo die DDR noch oder auch wieder zu erkennen ist.

Dass parallel dazu die Ausstellung zur Loveparade in Bonn eröffnet wird zu seinem zweiten, rosa Bildband über die elf Sommer zwischen 1995 und 2005, als bis zu anderthalb Millionen jährlich durch Berlin tanzten, hat einiges damit zu tun. Der Westen hat die Technokultur zwar erfunden und in die Ruinen Ost-Berlins getragen. Aber es waren vor allem junge Ost- und Randberliner, die an jedem Wochenende Kellerclubs wie den Tresor bevölkerten und in den früheren Neunzigerjahren auf die Straßen in die Sonne drängten, um die Loveparade und ihre eigenen Freiheiten zu feiern, während im Osten vieles zusammenbrach.

Als Daniel Biskup sich mit seiner Nikon dem Spektakel zuwandte, vor 30 Jahren, war der Reichstag eingehüllt von Christo und Jeanne-Claude. Die ehemalige Mauergegend zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule wurde zu einer fröhlichen Volksfestmeile für die ganze Welt und zum Geburtsort der Berliner Republik. Im Jahr darauf zog auch die Loveparade vom Ku’damm auf die Straße des 17. Juni um. Die letzte Technoprozession im 20. Jahrhundert war und blieb die größte ihrer Art mit ihren eher geschätzten als gezählten anderthalb Millionen Teilnehmern und Tänzern. Kritisch war damals nicht nur die schiere Masse.

Auch die Utopie einer „Raveolution“ verblasste hinter ihren Müllbergen im Tiergarten. Und mit ihr alles, was der Loveparade von guten Geistern nachgesagt wurde. Der öffentliche Raum als Dancefloor und als Laufsteg einer offenen Gesellschaft ohne Klassen. Das „Freiheitsversprechen“ eines „ästhetischen Individualismus“ der „Erlebnisgesellschaft“, wie es jetzt wieder im Vorwort zum Ausstellungskatalog zu lesen steht: der „Soundtrack des wiedervereinten Berlins“. Oder mit Westbams Worten: „Da ging der Zweite Weltkrieg eigentlich zu Ende.“

Im Sommer 2002 verlor die Loveparade ihren Demonstrationsstatus und musste ihren Abfall selbst entsorgen. Kommerziell war die Veranstaltung aber schon 1995, spätestens. Nicht nur wegen der fliegenden Wasserpistolen-, Trillerpfeifen- und Getränkehändler auf den Fotos. Auf dem Float, dem riesigen Firmen-Lastwagen von MTV, dem mächtigsten Musikkanal der Achtziger- und Neunzigerjahre, legt Carl Cox als lebendes Maskottchen auf. Die Jägermeister-Brennerei leistet sich einen eigenen Doppeldeckerbus.

Aber es ist eben wie auf dem Banner auf einem der Bilder: „Spaß haben, die Welt verändern und dabei Geld verdienen.“ Was nur bis 2006 zufriedenstellend lief. Die Loveparade verließ Berlin, versuchte es im Ruhrgebiet und ging 2010 in einer menschengemachten Katastrophe, im Gedränge unter: 21 Tote, 40 Schwerverletzte. Zum Exportschlager wurde die Marke dennoch.

„Friede, Freude, Eierkuchen“ zeigt deutsche Kulturgeschichte im Museum. Aber es ist auch nicht wahr, dass Techno tot sei, wie es unter Veteranen heißt, nur weil sie nicht mehr tanzen gehen. Techno lebt als letzte musikalische Revolution nach eigenen Evolutionsregeln, zwischen den Dorf- und Großraumdiskotheken der Provinz und den Berliner Clubs, vom Berghain bis zum KitKat, die von ihren selbstgehäkelten Legenden leben – und vom Techno, wie auch immer der Elektropop zum Tanzen sich gerade nennt. In jedem Volksfest schläft heute ein Rave.

Die früheren Jahre sind Schwarz-Weiß in Biskups Bildern, dann werden sie bunt und brechen ab, bevor die Schatten kommen. Wer die Fotos heute sieht, kann gar nicht anders, als bei den schwitzenden Menschenmassen an die Pandemie zu denken und beim simulierten oder echten öffentlichen Sex und jungen Frauen mit Telefonnummern zwischen den Brüsten an MeToo. Und war es wirklich so, wie es über der Loveparade geschrieben stand: „We Are One Family“ und „Bass statt Hass“? War sie das große Freiheitsfest eines Jahrzehnts zwischen dem vorläufigen Abschied vom Totalitären bis zum Terror von 2001, trotz aller Kriege und in allen Krisen, die es durchaus gab? Sind die Paraden jetzt politischer?

Auf einem Foto steht ein älterer Mann am Rand, einsam mit Hut und Mantel und mit einem Pappschild, das er selbst beschriftet hat: „Freundin gesucht“. Früher war mehr Jugend, so viel ist sicher.

Bis 17. August. Daniel Biskup: Loveparade. Salz und Silber, 240 S., 39 €.

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