Falls es zwischen den beiden Sängerinnen des russischen Popduos t.A.T.u. "schlüpfrig" werden sollte, wollte man beim Eurovision Song Contest 2003 die Live-Übertragung unterbrechen. Die Russin Manizha sang 2021 darüber, wie sich die russische Frau in der Gesellschaft behauptet. Und ESC-Teilnehmer Sergey Lazarev kritisierte die russische Regierung 2016 für ihren Umgang mit Schwulen. Ausgerechnet Russland, das die Meinungsfreiheit und die Rechte von queeren Menschen stark einschränkt, brachte wiederholt Künstler auf die Bühne des Eurovision Song Contests, die sich dem Kurs der Regierung widersetzten.
Seit 2022 ist Russland nicht mehr beim ESC vertreten, weil es nach dem Angriff auf die Ukraine ausgeschlossen wurde. Mit Intervision will Präsident Wladimir Putin im Herbst daher seinen eigenen Eurovision Song Contest auf die Bühne bringen – als Alternative zum "ideologischen und voreingenommenen" ESC, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Der Kremlchef erklärte Intervision zur Chefsache und beschloss das Event im Februar per Dekret. Promotet und vermarktet wird es vom Außenministerium und vom Kabinett. 25 Länder sollen ihre Teilnahme schon bestätigt haben. Auch den eigenen Kandidaten hat Russland schon festgelegt: den ehemaligen Boygroupsänger und jetzigen Patrioten-Popstar Shaman. Wozu das Ganze?
Russlands Shaman wurde zeitgleich mit dem Ukrainekrieg erfolgreich
Shaman, der eigentlich Yaroslav Dronov heißt, wurde 2014 in der russischen Version von "The Voice" entdeckt. In den Anfangsjahren sei seine Karriere vor sich hingedümpelt, sagt Musikwissenschaftler David-Emil Wickström von der Popakademie Baden-Württemberg dem stern. Wickström forscht unter anderem zu Populärer Musik im postsowjetischen Raum. Shamans Erfolg sei gekommen, als Russland die Ukraine überfiel, erklärt er. Das Lied "Wstanem" (Deutsch: Wir erheben uns) habe er einen Tag vor Kriegsbeginn veröffentlicht.

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Shamans Tribut an die russischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg traf den Zeitgeist und passte in die Erzählung von Russlands vermeintlichem Kampf gegen Nazis in der Ukraine. Der Song ging viral. Daraufhin brachte der Sänger weitere Stücke mit derselben ideologischen Schlagseite heraus, unter anderem sein bekanntestes Lied "Ja Russkij" (Deutsch: "Ich bin Russe"). Für eine Neuaufnahme von "Wstanem" im November 2022 trommelte er die Crème de la Crème der russischen Popwelt zusammen.
Mit seiner Musik hat sich Shaman als Propagandist für den Kreml hervorgetan: Er trat schon auf staatlich organisierten Konzerten auf, unter anderem vor russischen Streitkräften in besetzten ukrainischen Gebieten und am Jahrestag des Überfalls auf die Ukraine. Für die jüngste Präsidentenwahl ernannte Putin ihn zu seinem Vertrauten. Vergangenes Jahr setzte ihn die Europäische Union auf die Sanktionsliste. Für Wickström ist denkbar, dass Shaman auch jenseits von offiziellen Veranstaltungen und Aufträgen Förderungen von staatlicher Seite erhält.
In seinen Liedern gelinge es Shaman, Einheits- und Gemeinschaftsgefühle zu beschwören, sagt Wickström. Seine Auftritte seien professionelle Hochglanzshows und eigneten sich gut zum Mitsingen, denn die Texte seien plakativ und die Botschaften einfach. Es gehe darin um Heimat, um die russische Identität, den russisch-orthodoxen Glauben und um die Verteidigung Russlands gegen einen äußeren Feind.
Intervision als Russlands Softpower-Tool
Wie sehr Shamans Patriotenshow in der russischen Bevölkerung verfängt, kann Wickström aus der Ferne schwer beurteilen. Er könne von Touren berichten, wo einzelne Konzerte ausfallen mussten, weil zu wenig Tickets verkauft wurden, sagt der Musikwissenschaftler. In unabhängigen russischen Zeitungen habe er gelesen, dass manche Besucher für Konzerte bezahlt würden. Aber bei Shamans Musik zähle auch die Außenwirkung. Was zurück zum Intervision-Contest führt.

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Bereits beim Eurovision Song Contest setzte Russland laut Wickström meist auf junge, nach westlichem Ideal schöne und professionell performende Künstlerinnen und Künstler. Dima Bilan gehörte dazu, ebenso wie Polina Gagarina oder Sergey Lazarev. Mit diesen fotogenen Künstlerinnen und Künstlern wollte Russland offensichtlich ein positives Bild im Ausland abgeben. Hier reiht sich auch Shaman ein.
Wickström sieht in Intervision ein Softpower-Tool, um sich im Ausland zu präsentieren. Sich mit sportlichen und kulturellen Events zu inszenieren, ist erst mal nichts Ungewöhnliches. Im Gegensatz zum staatlich unabhängigen Eurovision Song Contest ist bei Intervision aber das russische Außenministerium direkt involviert. Geladene Gäste sind Brics-Staaten wie Brasilien und China, die oft nicht Teil der Europäischen Rundfunkunion sind und daher nicht am ESC teilnehmen können. Auch haben diese Länder ein engeres Verhältnis zu Russland. Der Intervision wird laut Wickström damit zur Plattform, um diese positiven Beziehungen zu pflegen.
Quellen: Dekoder.org, Reuters.com, Tass.com, Tass.ru, Tass.com, Rbc.ru, Shamanofficial.ru, Rbc.ru, Sueddeutsche.de
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