Die ganze Welt schaut dieser Tage nach Rom. Den Papst zu beerdigen und seine Nachfolge zu regeln ist ein Schauspiel, dessen Rituale nicht nur 1,4 Milliarden Katholiken in seinen Bann ziehen. Wenn sich 134 Kardinäle zum Konklave treffen, um den neuen Papst zu wählen, dann tun sie das unter einem der berühmtesten Kunstwerke der Menschheit, Michelangelos Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle.
Dass herausragende religiöse Kunst selbst bei Atheisten eine starke Wirkung entfaltet, kann man gerade auch im eher protestantischen London erleben. Selten hat eine Ausstellung christlicher Kunst die Kritiker so einhellig begeistert wie „Siena – The Rise of Painting“. Der linksliberale „Guardian“ nannte sie atemberaubend und die „New York Times“ sprach von der Ausstellung der Saison – zuvor war „Siena“ im Metropolitan Museum in New York zu sehen gewesen. Der Kritiker der „Times“, Holland Cotter, hob die „besondere emotionalen Intensität der Bilder“ hervor, die zweihundert Jahre vor den Werken Michelangelo, Raffael und Leonardo da Vincis gemalt wurde, und zu einer Zeit, als die Päpste gerade in Avignon residierten.
Tatsächlich ist „Siena – Der Aufstieg der Malerei“ eine überwältigende und berührende Schau – und ein kleines Wunder. Die kleine Stadt in der Toskana war im 14. Jahrhundert, dem Trecento, die Kapitale der Kunst. Späteren Zeitgenossen galt der Sieneser Stil als zu gotisch, zu flach und zu dekorativ – der Geschmack der Kunstgeschichte orientierte sich lange an der Hochrenaissance und damit an Rom und Florenz.
Die Künstler des frühen 14. Jahrhunderts erzeugten keine plausiblen Bildräume, spielten aber schon mit perspektivischen Effekten. Statt mit Ausblicken auf Landschaften hinterlegten sie ihre Darstellungen religiöser Szenen mit Blattgold, und bei der Wiedergabe kostbarer Stoffe machte ihnen keiner etwas vor. Auch Elfenbein, Marmor und Silber kamen zum Einsatz. Die Materialien und Einflüsse fanden ihren Weg wie die Pilger, denn Siena lag an der Via Francigena, die von England durch Frankreich und die Schweiz nach Rom führte.
Unter den Eliten des 14. Jahrhunderts waren Werke aus Siena hochgeschätzt. Die damals schon sehr mobilen Könige, Kirchenfürsten und Hochadligen ließen sich in der toskanischen Stadt zusammenklappbare, in Leder gebundene Bildertafeln aus Holz anfertigen – Triptychen oder gar Polyptychen, also aus drei oder noch mehr Tafeln bestehende Gemälde, die oft mit Scharnieren verbunden waren. So zirkulierten die Meisterwerke von Duccio di Buoninsegna, Simone Martini, Pietro und Ambrogio Lorenzetti durch ganz Europa und stifteten Nachahmer. Am Hof des englischen Königs Richard II. etwa wurde um 1396 ein Diptychon für den persönlichen Gebrauch des Herrschers in Auftrag gegeben.
Die Eleganz des „Wilton Diptych“ und die geschickte Verwendung von Pigment auf Blattgold sprechen für Sienas Einfluss, so die Kuratoren. Man glaubt es ihnen. Gerade diese Begehrlichkeit und Beweglichkeit der Sieneser Kunst rettete sie aber nicht vor der Fragmentierung – so wurde das Hauptwerk der Ausstellung im 18. Jahrhundert in Dutzende Teile zersägt. Nach 250 Jahren der Versprengung ist Duccio di Buoninsegnas (1278-1319) über zehn Sammlungen in fünf Ländern verstreute „Maestà“ für den Hochaltar des Doms von Siena wieder vereint – soweit es eben geht. Fünf mal fünf Meter maß das Werk einst. Die thronende Madonna von Duccio ist eine großartige, komplexe Kunsterfahrung aus Tempera, Blattgold und geschnitztem Holz selbst als in Fragmenten. Eine künstlerische Neuheit war damals die Predella, also der flache Sockel, auf dem der Altaraufbau ruht und von dem in den Auftragsunterlagen nirgends die Rede ist – wahrscheinlich hat Duccio, der Lehrmeister Giottos, diese Lösung allein erfunden.
Die erhaltenen Predellentafeln werden in der National Gallery und vor schwarzem Stoff gezeigt, von dem sich die vom vielen Gold leuchtenden Szenen abheben. Direkt vor oder hinter dem Altar betenden Priester hätten diesen untersten Teil der Maestà unmittelbar vor Augen gehabt – und auf der Rückseite etwa einen schwarzhäutigen, bärtigen und geflügelten Teufel gesehen, der Jesus in einer Felslandschaft sowie auf dem Dach des Tempels in Versuchung führt. Durch eine offene Tür blickt man in das Innere des von Säulen geschmückten Tempels, dessen Mosaikboden wiederum an die Kathedrale von Siena erinnert. Die Details sind umwerfend, die Farbgebung kräftig und doch subtil. Gemalt wurde vor allem nach Vorlagen, nicht nach der Natur, die Zentralperspektive war noch nicht erfunden. Dennoch war Duccio um 1310 bereits in der Lage, auch psychologisch anspruchsvolle und komplexe Handlungen über mehrere Bilder hinweg zu erzählen.
Drei verschiedene Blickpositionen
So etwa auf der Rückseite der Haupttafel: Die von Jesus beim Letzten Abendmahl vorhergesagten drei Verleugnungen durch Petrus noch vor Tagesanbruch sind sowohl simultan als auch in zeitlicher Reihenfolge dargestellt. Episode eins: Der Hohepriester Hannas befragt Jesus nach dessen Verhaftung in seinem Palast. Episode zwei: Petrus erreicht den Palast mit Verzögerung und wärmt sich gemütlich mit anderen Wartenden im Hof an einem offenen Feuer. Eine Dienerin des Palastes identifiziert ihn als Anhänger Jesu, doch Petrus verleugnet. Es sind also zwei Episoden aus unterschiedlichen Evangelien, die Duccio hier auf zwei Ebenen übereinander anordnet, doch es ist dasselbe Haus, in dem sich beides zugleich ereignet: Die denunzierende Dienerin deutet das Treppengeländer entlang nach oben, wo gerade Jesus verhört wird – die perspektivisch dargestellte Architektur rahmt beide Szenen ein.
Gleich daneben ist derselbe Raum auf zwei Bildtafeln zweimal dargestellt, aber die Handlung wechselt, denn es ist eine Sequenz: unten verhört Kajaphas Jesus, oben wird Jesus mit verbundenen Augen vor diesem gegeißelt. Petrus steht beide Male vor der Tür. Er verleugnet Jesus ein zweites und dann ein drittes Mal. Der Verrat wird wirksamer inszeniert als in einer reinen Repräsentation. Wie die Maestà im 14. Jahrhundert gewirkt haben mag, kann man in London zum ersten Mal seit 250 Jahren ansatzweise nachvollziehen. Damals, so die Co-Kuratorin der Schau, Joanna Cannon, „musste ein Gläubiger nahe an einem Altarbild stehen, das fast fünf Meter breit war, und um die ganze Bandbreite der Szenen erfassen zu können, war er gezwungen, sich zwischen mindestens drei verschiedenen Blickpositionen zu bewegen.“
Qualität und Komplexität machen dieses Werk einzigartig, doch die Form der Anerkennung wechselte mit der Zeit. Als Duccio seinen Auftrag im Jahr 1311 ausgeführt hatte, wurde das Kunstwerk in einer Art Prozession aus seiner Werkstatt und durch die Straßen von Siena getragen, begleitet von allen ehrbaren Bürgern der Stadt. Im 16. Jahrhundert wanderte die Maestà in eine Nebenkapelle ab um dann im 18. zerlegt zu werden. Dabei gingen mit der Zeit einige Tafeln verloren, andere landeten in Museen und Sammlungen.
Ein weiteres Highlight der Ausstellung sind die gotischen Elfenbeinschnitzereien, die um 1300 aus Frankreich und dem Rheinland nach Italien kamen und dort wiederum die Kunst beeinflussten. Man glaubt kaum, wie genial Gestik, Mimik und Körpersprache von Menschen in diesem spröden Medium eingefangen wurden – die Elfenbeinschnitzerei scheint der Malerei um 1300 an Naturnähe voraus zu sein.
Ein elfenbeinerner Christus am Kreuz ist wohl, wie der substanzielle Ausstellungskatalog nachweisen kann, zur Inspiration für Duccios Kreuzigungsszene auf der Rückseite seiner Maestà geworden. Die Arme, die Beugung der übereinandergeschlagenen Beine, überhaupt die ganze Ausführung der Kreuzigungsszene auf der Rückseite der Maestà ähnelt einer Kreuzigung, die zwischen 1296 und 1303 in Frankreich aus Elfenbein geschnitzt wurde und die den Mittelteil des Saint-Sulpice-Triptychons bildet (heute in Paris, Musée Cluny).
Wie man das wissen kann? Das hier ausgestellte Triptychon taucht 1311 in einem Inventar des Papstes auf. Und als Duccio nach einem Bild für die Dominikaner in Perugia arbeitete, befanden sich die päpstlichen Sammlungen wahrscheinlich gerade dort, wo Benedikt XI. 1304 begraben worden war – in Perugia. Hat sich die frühe italienische Malerei bei ihrem ersten Höhenflug von Mitteleuropa anstiften lassen? Vieles spricht dafür. Schon im Mittelalter wurden die Sammlungen der Kirche zum Motor für weitere Entwicklungen, die schließlich zur Renaissance führten.
„Siena. The Rise of Painting“, National Gallery London, bis 22. Juni, der fundierte Katalog kostet ca. 50 Euro
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