Die Klinik von Hall in Tirol steht in Scheffau im Schatten des Wilden Kaisers, hinter dem allmählich die Sonne untergeht. Sie passt auf einen von drei Plätzen der Scheffauer Tennishalle. Seit ein paar Jahren ist das so. Da wird auf dem Court No. 1 „Der Bergdoktor“ gedreht.
Jene Szenen jedenfalls, in denen Hans Sigl als Dr. Martin Gruber – der Sherlock unter den Fernsehmedizinern, das Empathiezentrum des deutschen Fernsehens – seinem Klinik-Kumpel Dr. Alexander Kahnweiler erklärt, unter welcher rätselhaften Krankheit ein Patient wahrscheinlich leidet.
„Der Bergdoktor“, für alle die in den vergangenen Jahrzehnten nur Fußball geschaut haben im Fernsehen und die Nachrichten, läuft mit dem 56-jährigen gebürtigen Steirer in der Hauptrolle seit 2008. Erst im 45-Minuten-Vorabendformat. Dann in Spielfilmlänge. Um die Grubers geht’s und deren Hof hoch über Söll. Einen unbedingt bauernmuseumfähigen Hof, den man auch besichtigen kann, wenn man sein Auto unten am Hexenwasserparkplatz abstellt und eine Stunde wandert.
Die Grubers sind Martin und Hans, die Brüder, die in der ersten Staffel erfuhren, dass Lilli, damals neun, gar nicht die Tochter von Hans und seiner tödlich verunfallten Frau ist, sondern die von Martin. Lisbeth heißt die Mutter und ist das emotionale Zentralorgan des „Bergdoktor“. Aus diesem Plotstamm wuchs mit den Jahren eine ganze Krone von Nebengeschichten über Beziehungen und Familiengeheimnisse aller Arten. Und an jedem Ast hängt eine Patientenakte.
Zehn Millionen schauen im Durchschnitt zu. Es soll Chat-Gruppen in Vorständen dax-notierter Unternehmen geben, in denen sich über das Leben der Grubers ausgetauscht wird. Ein generationenübergreifendes Sehnsuchtsphänomen nach Empathie und Alles-wird-gut. Der Anteil der werberelevanten 14- bis 49-Jährigen ist höher als beim durchschnittlichen ZDF-Programm.
Inzwischen gestehen selbst Männer, dass sie die Gruber-Saga schauen. Nicht nur wegen des totschicken nickelgrünen Mercedes 200 (W 123), mit dem der Gruber Martin zur Rettung seines einen Patienten, den er pro Folge hat, über die Bergstraßen brettert. Sondern auch weil sie weinen wollen und sehen, wie alle glücklich sind, wenn der Martin – der regelmäßig sein Privatleben ruiniert, weil er sich gegen seine Berufung nicht wehren kann – wieder jemanden gerettet hat.
Enzephalitis ist heute dran. Die 19. Staffel wird gerade zu Ende gedreht. Sie läuft wie immer dann an, wenn die Silvesterknallerei verklungen ist . Der arme junge, bleichgeschminkte Kerl im Bett hat eine malerische Narbe auf dem Kopf. Für das, was er hat, kommt das neue und tatsächlich echte MRT, das sie jetzt irgendwo eine dünne Wand weiter stehen haben, natürlich gerade recht.
Man muss aufpassen, dass man sich nicht verläuft im kafkaesken Geschachtel der angedeuteten Räume, die auf den gut 300 Quadratmetern alles Mögliche sein sollen. Krankenzimmer, Aufzug, Empfang, Kahnweiler-Zimmer, wo sich echtes und falsches Medizinmaterial stapelt. Kameraleute wuseln herum und Regieassistenten, Schauspieler, der Gott des Tons sitzt in der Mitte des Chaos in einer Art Regiezentrale. Hans Sigl mag das eigentlich gar nicht. Er ist ein Teamplayer, sagt er. So spät zu kommen, findet er doof. Während er vormittags frei hatte, waren alle andern hier und haben schon Stunden gedreht, vorbereitet.
120 Drehtage am Wilden Kaiser im Jahr
Sie sind eingespielt wie eine gut geölte Drehmaschine. Sigl vergleicht sein Team, aus dem er bei der Arbeit nur aufgrund seiner Körpergröße herausragt, mit einer Nationalmannschaft. Hocheffizient sind sie inzwischen, sagt Sigl. In 16 Tagen drehen sie einen Neunzigminüter. Für Sonntagabendkrimis werden um die 23 veranschlagt. Von April bis Anfang Dezember sind sie in Ellmau.
Mehr als 120 Tage drehen sie hier, wo andere – unter anderem auch, um sich vor den Originaldrehorten vom „Bergdoktor“ zu fotografieren – Urlaub machen. 100 Tage davon, sagt er, ist er dabei. Die anderen vom Ton, vom Licht und von der Maske, vom Catering, sind immer da. „Für die ist es Stress. Aber nicht für die Schauspieler. Für die ist es Arbeit, gute Arbeit, herausfordernd, essenziell, existenziell manchmal auch. Aber anstrengend ist das nicht.“
Wir stehen draußen vor der Halle. Sigl trägt seinen Gruber-Mantel. Frotzelt mit Mark Keller, ganz in Halbgottweiß, der Kahnweiler ist und am Telefon immer „Martin, mein einziger Freund“ sagt. Sie lassen sich von ChatGPT Comedy-Rants über den jeweils anderen erstellen und lesen sie vor. Sehr lustig.
Bald ist die Drehsaison vorbei. Es stehen nicht wie im Sommer Trauben von Fans um die Wagenburg vor der Tennishalle. Keine Bergdoktor-Bustouren fahren mehr.
Wenn die Staffel anläuft, geht Sigl in Deckung, macht zwei Monate Auszeit, hält Digital Detox, liest viel, geht Golfen. Geht auf Reisen. Was manchmal nicht ganz so entspannt ist, weil Sigl längst zum medialen Stadtbild von ganz Europa gehört. In Slowenien schalten mehr Menschen ein, als das Land Einwohner hat. In Spanien reißen sich am Flughafen die Taxifahrer um den „Doctor en los Alpes".
Gerade hat er um zwei Jahre verlängert
Im März kommen die Drehbücher. Sigl nimmt Kontakt mit den Kollegen für die Episodenhauptrollen auf. Und dann fährt er los am Ammersee und mit seinem alten Volvo das Tal Richtung Kitzbühel hoch. Sieht den Kaiser wieder. „Das erfüllt mich mit Liebe, mit einem warmen Heimatgefühl.“ Und wenn er dann in Ellmau auf dem Golfplatz steht, weiß er, dass das alles wieder anfängt. Und freut sich immer noch wie Bolle. Gerade hat er wieder um zwei Jahre verlängert.
Hätte er 2008 natürlich nicht gedacht, dass er jetzt hier noch steht. Da hatte er einen Vierjahresvertrag, was auch schon ein Luxus war. Dass er überhaupt hier steht, hat was mit Hartnäckigkeit zu tun und mit dem Kosmos. Das mit der Hartnäckigkeit erklärt sich so: Sigl hatte Lehrer werden wollen, Englisch und Psychologie studiert. Einen Vortrag sollte er halten in Pädagogik. „Schule im Würgegriff des dritten Jahrtausends“ hieß das Seminar.
Nach dem Referat stand er mit einem Kumpel beim Bier, und ihm war klar, dass er was ändern müsse im Leben. Der Kumpel riet ihm, es doch mit der Schauspielerei zu versuchen. Emo Cingl, der Leiter der Schauspielschule am Tiroler Landestheater, wollte ihn nicht. Er sei zu groß und überhaupt unbegabt, Gretel Fröhlich, Cingls Kollegin, sah das anders. Sigl brachte sich das Spielen, Tanzen, Singen überwiegend selbst bei. „Aus dir wird nie was“, rief ihm Cingl noch nach.
Das mit dem Kosmos kam dann später. Als er bei der Bremer Shakespeare Company war. Mit Dreißig. Und ohne Perspektiven. Da lief ihm ein Buch zu. „Bestellungen beim Universum“ hieß das. Bärbel Mohr hat es geschrieben. Die autosuggestive Mechanik geht so, erklärt Sigl: „Man kann Dinge bestellen und die werden dann geliefert. Man muss nur loslassen.“
Als Erstes bestellte er nicht Geld, das fand er albern, obwohl er es hätte gebrauchen können, sondern Arbeit. Und bekam einen Springerjob in Hannover. Dann bestellte er sich Drehtage und wurde ein Kriegsverbrecher bei „Marienhof“. Da er irgendwann wohl dem Universum übermittelt hatte, dass er gern Hörbücher machen würde, durfte er, der als „autodidaktischer Anfänger“ während des Schauspielstudiums abends als Meditation, Stimm- und Ausspracheschulung Reclam-Hefte laut vorlas, mit Reclam-Bänden ins Hörbuchstudio und 50 Klassiker einlesen.
Erschütternd analoges Ordinationszimmer
Dass er, nach fünf Jahren als Kommissar bei „Soko Kitzbühel“ jemals gebückt – man schlägt sich automatisch am Türrahmen den Schädel an, wenn man das zum ersten Mal macht – und für zwanzig Jahre das geradezu erschütternd analoge Ordinationszimmer in Ellmau betreten würde, muss auch auf einem Bestellzettel gestanden haben. Generationen von Zuschauern, die erwachsen wurden mit Ronja Forchers Lilli und grau wurden auf dem Kopf mit dem Gruber Martin und ein anderes Männerbild lernten, sind dem Kosmos dankbar.
Manchmal sogar die Kollegen, die auch immer jünger werden. Und ihm dann unglaubliche Sätze sagen. Einmal, da stand einer vor ihm, verblüfft darüber, dass man etwas wie den „Bergdoktor“ derart lang tun kann und meinte: „Ich danke dir für eine schöne Kindheit.“ Ein „großer Satz“, sagt Sigl, „und ein schrecklicher. Weil ich innerlich zu Staub zerfalle: Wo ist denn bitte die Zeit hin?“
Insgesamt hält er, dass er altern darf als Bergdoktor, allerdings schon für ein Privileg. Erschreckt ihn nur manchmal. Wenn er sich so grau sieht im Fernsehen. Im April sitzt er, sagt er, noch mit der Maskenbildnerin vor dem Spiegel, sie lachen viel und er kann sich gut aushalten. „Im November habe ich die Augen zu. Dann bin ich meiner müde.“
Aber das hält nicht lange an. Weil er immer noch Lust hat auf diesen Kerl und diese Geschichte. Weil die Arbeit am „Bergdoktor“ nie zu Ende geht. Das Formatgrenzen einhalten und Genregrenzen sprengen, das Modernisieren des Heimatfilms, das eines der Geheimnisse der Serie ist. Weil es ihm nie langweilig wird mit dem Doktor, dem ganze Nationen vertrauen, der Beichtvater ist und Hoffnung auf eine empathische Medizin, der nie ankommt, selbst jetzt nicht, wo er verheiratet ist.
Irgendwann aber wird es dann doch vorbei sein. Und er wüsste schon wie es zu Ende gehen könnte mit der Geschichte vom Gruber Martin. „Irgendwann schließt er hier die Praxis ab. Er fährt rauf auf den Gruber Hof. Stellt sein geiles Auto in die Scheune und deckt es zu. Dann spätestens, wenn alle merken, was kommt, möchte ich, dass alle weinen oder – noch besser: lachen. Anschließend nimmt er ein Taxi für den Weg zurück, den er einst gekommen ist. Er steigt ein. Und fährt los. Und am Ende Bahnsteigs steht der neue Bergdoktor.“
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