Als vor gut zwölf Jahren dem Wiesbadener Kriminalhauptkommissar Felix Murot ein nicht unbeträchtlicher Tumor aus dem Kopf entfernt wurde (den er Lilly nannte), muss dabei im Hirn des passionierten NSU Ro-80-Fahrers nicht nur eine ziemlich eklatante Lücke entstanden sein. Es müssen sich Synapsen komisch verdrahtet haben.
Vielleicht hat sich auch eine Art Wurmloch geöffnet, durch dass der Kommissar immer wieder in neue Grenzgebiete des Sonntagabendkrimis verschwindet. In kriminelle Parallelwelten, in denen andere Gesetze des Mordgeschichtenerzählens gelten, in blutige Wunderländer.
Da kann es dann vorkommen, dass gefühlt ein halbes Hundert Leichen herumliegen, dass der Kommissar verkabelt mit einem nabelschnurartigen Ding bewusstlos auf der Suche nach dem ultimativen Glück in einer warmen Wanne liegt, durchs All treibt, Gott sieht – ein Gedanken-Experiment, das nicht gut ausgeht für Adolf Hitler. Einmal ist er aus einer Zeitschleife nicht wieder aufgetaucht, erlebte einen Tag immer wieder, da konnte er sterben, so oft er wollte.
Nun sitzt er da – „Murot und der Elefant im Raum“ heißt der „Tatort“, Ulrich Tukur ist wieder Felix Murot – und ihm platzt die Hutschnur über seinem ramponierten Schädel. „Wir haben noch nie einen Fall in der sogenannten Realität gelöst“, schreit er. Der Staatsanwalt ist da, der Polizeipräsident. „Man muss immer auf die eine oder andere Art in den Kopf der Leute reingehen und gucken, was los ist.“
Die Geschichte mit dem Elefanten beginnt eigentlich ganz realistisch. Eine Frau, die ihr Leben nicht im Griff hat, sitzt beim Jugendgericht. Es geht um das Sorgerecht für ihren fünfjährigen Sohn. Benjamin heißt er. Die Richterin hat die Eskapaden der Frau – Drogen, Alkohol etc. – satt und die Entschuldigungen, das Flehen, dass sie sich bessern will. Sie will „andere Seiten aufziehen“. Es sieht schlecht aus für Eva Hütter.
Da steht sie auf, niemand – hier schon beginnt der Realismusbegriff für diesen Fall auszufransen – stoppt sie seltsamerweise, als sie, was abzusehen war, Benjamin an der Hand und bewaffnet mit einem gespitzten Bleistift das Gericht verlässt. Sie fährt los, Urlaub machen im Wald, sagt sie zu Benjamin. Der braucht Nougatflips, sagt er, als sie im Wald angekommen sind. Sind keine da. Eva fährt nochmal los. Glaubt sich verfolgt von der Polizei, verunfallt schwer und fällt ins Koma. Benjamin – der exakt die Verfolgungsjagd mit Spielzeugautos durchgespielt hat, während sie passiert – ist allein im Wald.
Doc Brown der Tiefenpsychologie
Das ist der Moment, in dem Murots 14. Fall durchs Wurmloch fällt. Und schuld ist Doktor Schneider. Das ist ein irgendwie zauseliger Psychologe, in dessen Behandlung sich Murot begeben hat, weil ihm all das zuviel wird, das Morden, das Verbrechen. Doktor Schneider, eine Art Doc Brown der Tiefenpsychologie, hat einen Apparat entwickelt für Neurofeedback. Sieht aus wie ein dilettantisch verlötetes Mischpult aus den späten Sechzigern, wahnsinnig viele Kabel stöpselt er da rein. Dann setzt er dem Patienten ein verkabeltes Krönchen auf. Und schon passiert, wovon Doktor Freud nur träumen konnte – das Unterbewusstein des Patienten wird begehbar.
So könnte man jetzt, denkt Murot sich, den man schon durch psychedelisch flackernde Gänge in seinem inneren Selbst hat taumeln sehen, einen Leiterwagen voller Koffer hintersichherziehend, auch im Unterbewusstsein von Eva Hütter herumstromern und nachschauen, wo sie ihren Sohn versteckt hat. Die Zeit wird knapp, die Öffentlichkeit ist alarmiert, die Polizeioberen beginnen durchzudrehen. Man kennt das ja aus der Realität der Sonntagabendkrimis. Das erste, was Murot in Hütters Innenwelt passiert, ist, dass er von einer Yeti-artigen Gestalt gewaltig eins auf die Mütze bekommt. Und wieder aufwacht.
Dietrich Brüggemann hat „Murot und der Elefant im Raum“ geschrieben und in Szene gesetzt. Er hat Murot auch in seinen Murmeltiertag gesteckt (in den er am Ende vom „Elefant“ übrigens wieder zu verschwinden droht). „Man schaut Filme ja ohnehin nicht mit dem analytischen Gehirn“, hat Brüggemann mal gesagt, „sondern in einer Art halbbewussten Traumzustand. Filme sprechen zum Unterbewusstsein, und im Grunde handeln sie auch vom Unterbewusstsein.“
„Das Kind in dir muss Heimat finden“
Das Unterbewusstsein, so wie es im „Elefant“ jedenfalls zu sehen ist, ist ein ziemlich bunter Ort. Seltsame Figuren stehen da rum am Rand von aseptischen Straßen in seltsamen Klamotten, haben zwei Kürbisse, zwei Saxofone, zwei Weltkugeln in Händen. Eva Hütter nimmt Murot an die Hand und hüpft mit ihm durch ihre Traumata wie er mit ihr durch seine. Murot zieht seinen Leiterwagen über Wiesen und hat irgendwann sein inneres Kind dabei. Brüggemann spielt mit Stefanie Stahls Ratgebersuperseller „Das Kind in dir muss Heimat finden“, über das sich Brüggemann doch ziemlich lustig macht.
Was diesseits und was jenseits des Murotschen Wurmlochs ist, was filmische Realität und filmischer Fantasie, verwischt immer wieder. Die Küchenpsychologie wirft mit Klischees nur so um sich (Eva Hütters Mutter hätte jeden therapiereif erzogen zum Beispiel). Durch Doktor Schneiders Biografie geistern als Psychologen getarnte Größen der elektronischen Musik. Falls jemand versuchen sollte, Max Emanuel Blei, den angeblichen Urvater des Neurofeedback zu suchen – lieber lassen. Wissenschaft und Esoterik gehen in den Infight.
Die Dialoge sind ungefähr so lustig wie listig. Gespielt wird so toll – von Tukur natürlich, der einen Hauptspaß an dieser Grenzgängerei hat, von Nadine Dubois als Eva, auch von Robert Gwisdek als Parapsychologe –, dass der „Elefant“ geerdet wird und nie Gefahr läuft durch das Sonntagabendkrimiwurmloch vollends nach Absurdistan verblasen zu werden.
Noch macht es ziemlich Spaß, mit Tukur durch die Türen der Wahrnehmung zu tanzen und auf den rauchenden Trümmern dessen, was Brüggemann und seine an der Murot-Erzählung beteiligten Kollegen vom Genre übriggelassen haben. Nach dem „Elefant“ allerdings wünscht man Murot, dass einer das Wurmloch zunagelt. Und ihn in der Realität hält und ihn andere Wege suchen lässt, in den Kopf der Leute zu kommen. Wenigstens für einen verdammten Sonntag.
„Murot und der Elefant im Raum“ läuft am 28.12. um 20:15 Uhr im Ersten und in der ARD-Mediathek
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