Wer hat denn dieses Theater gebaut“, fragt der Kommissar. „Kafka?“ Er ist außer Atem, was nicht nur daran liegt, dass er einer Dienstältesten im „Tatort“ ist. Die Treppen vom Münchner Residenztheater sind sie hinter den Kulissen runter gerannt, Leitmayr (Udo Wachtveitl) und Batic (Miroslav Nemec), die beiden Silbermähnen, die kommendes Jahr nach einer letzten Doppelfolge in Rente gehen. Und Leitern hoch, durch labyrinthische Gänge, über Bühnen, in Garderoben.
Wenn sie könnten, würden sie sich bei Andreas Kleinert beschweren, der Regie führt und umsetzt, was Norbert Baumgarten und Holger Joos geschrieben haben. Oder bei Tschechow. Um den geht es nämlich auch in „Das Verlangen“. Um „Die Möwe“.
Und ums Schauspielen und ums Leben. Um Liebe und Wahnsinn und Abhängigkeit, große Träume, großes Scheitern. Und um Mord. Tschechow halt. Man kann das manchmal gar nicht auseinanderhalten. Es schwirrt einem der Kopf. Man wird ganz beschwipst davon.
Das kafkaeske Gewirr der Laufwege ist natürlich eine Metapher für das Gewirr der Gefühle und Beziehungen und Abhängigkeiten, die am Ende dazu geführt haben, dass Nora tot ist. Nora war Nina, die als Schauspielerin scheitert in der „Möwe“. Dann hat sie, was sie gar nicht sollte, den Bühnenwein gesoffen.
Und dann lag sie da. Eine Überdosis Tilidin war im Wein. Das hat sie sowieso genommen, weil ihr alles zu viel war, das Theater, der Druck, die Kollegen. Nora kam von Netflix. Ein bisschen degoutant fanden das die Bühnentiere um sie herum, die ständig was fühlen müssen, es fühlen müssen.
Es ist ein ziemlich ernstes Spiel, in dem sich Leitmayr und Batic wiederfinden mit dem Kalli, der bald den „Tatort“-Laden in München übernimmt und über den Batic sagt: „Den haben wir aber gut hingekriegt.“ Was nicht der einzige Meta-Scherz ist, den sich Joos und Baumgarten erlauben. Aber dazu später.
Batic und Leitmayr übernehmen in dieser von herrlichen Schauspielern hellerleuchteten Tragödie die Rolle des niedrigen Paars. Sie sind die Buffos. Für die (selbstironischen) Scherze zuständig und dafür, die Mimen und das Drama vom Abheben abzuhalten.
Leitmayr hatte mal was mit einer Schauspielerin
Einmal zum Beispiel, da sagt der Leitmayr, der mal was mit einer Schauspielerin hatte und zu wissen meint, dass am Theater jeder was mit jedem hat (was „Das Verlangen“ bestätigt): „Das war eigentlich gar keine richtige Schauspielerin; die hat nur Fernsehen gemacht.“
Zurück zu Tschechow. Und zu Hans Christian Andersens „Die Schneekönigin“. „Das Verlangen“ ist der diesjährige Weihnachts-„Tatort“, was man an genau einem behängten Christbaum erkennen kann, der mal irgendwo am Rand herumsteht. Mit Andersen geht’s nämlich los. Und mit einer Schauspielerin, die es sechs Monate vor Nora schon nicht mehr ausgehalten hat und irgendwann tot vom Schnürboden vom Resi hing.
Jetzt ist Sommer, was man aber nicht so merkt, weil sich alles im „Verlangen“ im Theater abspielt. Die pathetisch, verlogenen Worte der Chefin („Wir sind eine Familie, wir passen aufeinander auf“), die Proben, die wie Folter wirken und gegen die Verhöre ein mildes Quiz sind, die Eskalationen, die Sticheleien.
Die Einheit von Ort und Handlung bleibt erhalten, die Zeit wird gedehnt. Sanft werden Rückblenden eingebaut, die man manchmal gar nicht merkt. Wie man nicht merkt, was denn nun von Tschechow ist und was von Baumgarten und Joos. Wie man und die Mimen manchmal selbst nicht merken, wann sie wer sind. Ob die Realität das Spiel nachahmt oder umgekehrt.
Das ist von Gudrun Steinbrück-Plenert virtuos geschnitten. Die Bilder von Johann Feindts Kamera, die Gesichter erforscht und Blicke und Gesten, verfolgen einen noch lang. Und das, was Ursina Lardi (Star am Berliner Ensemble) und Robert Kuchenbuch (Star am Stuttgarter Theater), was Giulia Goldammer (die mal am Resi war) und Lukas T. Sperber (den Peymann für seinen „Lear“ nach Stuttgart holte) da tun.
„Das Verlangen“ ist der bestgespielte „Tatort“ des Jahres (wenn nicht überhaupt). Lardi, die, weil sie gar nicht anders kann, aus allem herausragt, und das Ensemble um sie herum spielen mit den Spielerklischees ihrer Figuren, wissen um sie, karikieren sie, lassen ihnen aber ihre Würde und Wahrhaftigkeit.
Die alten Herren vom Kommissariat geben noch ein zwölfminütiges Enthüllungsfinale aus dem Agatha-Christie-Christie-Bausatz, für die sie von Ursina Lardis Diva gelobt werden. Und Robert Kuchenbuch, der Ex der Diva, nimmt zurück, was er Leitmayr/Batic und Wachtveitl/Nemec gleichzeitig zwischendurch zum Thema Austauschbarkeit im Job sagte: „Wahrscheinlich geht’s Ihnen ja gleich. Wenn Sie aufhören irgendwann Mörder zu suchen, wird’s irgendjemand anders tun – und keinen interessiert’s.“
Einen guten Vorsatz kann man noch mitnehmen vom „Verlangen“. Ursina Lardi gibt ihn aus: „Gehen Sie mal wieder ins Theater.“ Es muss ja nicht das Resi sein.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke